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_ JAHRBÜCHER FÜR NATIONALÖKONOMIE UND STATISTIK

BEGRÜNDET VON FORTGESETZT VON BRUNO HILDEBRAND JOHANNES CONRAD

HERAUSGEGEBEN VON

DR. LUDWIG ELSTER

WIRKL. GEH. OBER-REGIERUNGSRAT IN BERLIN

IN VERBINDUNG MIT Dr. EDG. LOENING Dr. H. WAENTIG

PROF. IN HALLE A. S. PROF. IN HALLE A. 8.

106. BAND Il. FOLGE 51. BAND 1916. 1.

JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1916

Alle Rechte vorbehalten.

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Inhalt des 5i. Bandes, dritte Folge. (106. Bd.)

I. Abhandlungen.

Dix, Arthur, Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. S. 64. Heyn, Otto, Zur Verteidigung der Chartaltheorie des Geldes. S. 776.

Köppe, H., Die deutschen Kriegsanleihen. S. 321.

—, Die Kriegsanleihen Frankreichs und die englisch-französische Anleihe in den Vereinigten Staaten. S. 753.

—, Die Kriegsanleihen Oesterreich-Ungarns. S. 449.

Liefmann, Robert, Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. S. 1, 193.

Spitz, Philipp, Das Problem der allgemeinen Grundrente bei Ricardo, Rodbertus und Marx. S. 492. 593.

II. Nationalökonomische Gesetzgebung.

Müller, Johannes, Die durch den Krieg hervorgerufenen Gesetze, Verordnungen, Bekanntmachungen usw., soweit sie im Reichsgesetzblatt veröffentlicht worden sind (3. Fortsetzung). 8. 349.

Strutz, G., Das Gesetz über vorbereitende Maßnalımen zur Besteuerung der Kriegs- gewinne. 8. 86.

Taubes, Emil, Die Einschränkung des freien Getreidehandels in Rumänien. S. 805.

III. Miszellen.

Bruck, W. F., Die Wiederaufnahme des Hanfbaues in Deutschland. S. 250.

Deite, Hermann, Der Ersatz des Handels durch gemeinwirtschaftliche Organi- sationen des Kriegsrechts. S. 630.

Dix, Arthur, Deutschland und der Balkanmarkt. S. 647.

Feld, Wilhelm, Soziale Klassenbildung in der Bevölkerungsstatistik. S. 550.

Guradze, Hans, Die Brotpreise in Berlin im zweiten Kriegsjahre 1915. S. 813.

Herbst, Die Fürsorge für die Kriegsbeschädigten. S. 104.

Heyn, Otto, Der Kursrückgang der deutschen Wechsel keine Folge einer Entwertung des deutschen Geldes. S. 376.

Kellenberger, Eduard, Die Aufhebung der Barzahlung in England 1797 und ihre Folgen. 8. 391.

Krebs, Willy, Die Jahresberichte der genossenschaftlichen Zentralverbände. S. 537.

Rudloff, L., Der Bodenwert im besetzten Nordost- und Ostfrankreich und seine Schwankungen im letzten halben Jahrhundert. S. 269.

—, Die Entwertung des französischen Bodens seit einem Menschenalter. S. 807.

x. Stojentin, Zur künftigen Entwicklung des Arbeitsnachweises in Deutschland. S. 145.

Strehlow, Die Ansiedelung der Kriegsinvaliden in Stadt und Land. $. 525.

Tauben, Emil, Rumäniens Mühlenindustrie und Mehlhandel. S. 656.

ahn, Friedrich, Die amtliche Statistik und der Krieg. S. 95.

NN 456388

IV Inhalt.

IV. Literatur. a) Berichte und Sammelreferate.

Bredt, Joh. Viktor, Welche Umstände verteuern das Bauland? Bespr. von Streh- low. S. 822.

Eberstadt, Rudolf, Der Ursprung des Zunftwesens und die älteren Handwerker- verbände des Mittelalters. Bespr. von G. v. Below. S. 292.

Fränkel, Franz, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Bespr. von Karl Leh- mann. S. 556.

Nationalstaat und Nationalwirtschaft. Unionstaat und Unionwirtschaft. Mitteleuropa. Bespr. von G. v. Below. S. 662.

Oberfohren, Ernst, Die Idee der Universalökonomie in der französischen wirt- schaftswissenschaftlichen Literatur bis auf Turgot (Probleme der Weltwirtschaft ete., Heft 23). Bespr. von W. Ed. Biermann. S. 818.

Ein neuer Grundriß der Sozialökonomik. Bespr. von Karl Diehl. S. 399.

Strieder, Jakob, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen : Mono- pole, Kartelle und Aktiengesellschaften im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Bespr. von Paul Rehme. S. 162.

Weidner, Fritz, Die Haussklaverei in Ostafrika. Bespr. von Rud. Leonhard. S. 829.

b) Rezensierte Schriften.

Amonn, Alfred, Nationalgefühl und Staatsgefühl. (G. v. Below.) S. 662.

Asch, Käte, Die Lehre Charles Fouriers.. (Otto Warschauer.) S. 297.

Bachmann, Organisationsbestrebungen in der deutschen Tuch- und Wollwarenindustrie. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen, Neue Folge Heft 32.) (Richard Passow.) S. 694.

Bonne, Georg, Heimstätten für unsere Helden. (Strehlow.) S. 310.

Bramm, Rudolph, Deutschlands Stellung im Welthandel und Weltverkehr. (A. Wirminghaus.) S. 306.

Brandt, Die deutsche Industrie im Kriege 1914/15. (Richard Passow.) S. 842.

v. Caemmerer, Charlotte, Der Berufskampf der Krankenpflegerin in Krieg und Frieden. (Margarethe v. Gottberg.) S. 851.

Deck, Fritz, Die Pfälzische Bank. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Kredit- genossenschafts- und Bankwesens. (Georg Obst.) S. 308.

Delden, W. van, Studien über die indische Juteindustrie. (Abhandlungen aus dem volkswirtschaftlichen Seminar der Technischen Hochschule zu Dresden, herausgegeben von Robert Wuttke, Heft 9.) (Richard Passow.) S. 432.

Dix, Arthur, Bulgariens wirtschaftliche Zukunft. (L. E.) S. 691.

Eggenschwyler, Die Schweizer Volkswirtschaft am Scheideweg. Ratschläge zur Neuorientierung unserer Industrie. (Schweizer Zeitfragen, Heft 44.) (Richard Passow.) S. 837.

Fessmann, Karl, Gelbe Gewerkvereine in Frankreich, „Syndicats jaunes". (H. Köppe.) S. 578.

Frölich, Fr., Die Stellung der deutschen Maschinenindustrie im deutschen Wirt- schaftsleben und auf dem Weltmarkte. (Richard Passow.) S. 693.

Gesellschaft österreichischer Volkswirte, Jahrbuch 1914. (Gustav Aubin.) S. 441.

Guckenmusz, Franz, Die Unterstützung der französischen Handelsmarine durch Prämien. (Cl. Heiß.) S. 304.

Harms, Edmund, Die Ueberführung kommunaler Betriebe in die Form der ge- mischt-wirtschaftlichen Unternehmung. (Richard Passow.) S. 689.

Herzfelder, Emil, Haftpflichtversicherung. (Versicherungs-Bibliothek, Bd. 4.) (Walter Hoffmann.) S. 576.

Hobson, C. K., The Export of Capital. Studies in economie and political science. (Robert Liefmann.) S. 173. 3

Hoefliger, Walter, Die finanzielle Kriegsbereitschaft der schweizerischen Eid- genossenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Schweizerischen Nationalbank. (Sven Helander.) S. 572.

Inhalt. y

Huberich, Charles Henry, Das englische Prisenrecht in seiner neuesten Gestalt. Unter besonderer Berücksichtigung der seit August 1914 erlassenen Gesetze und ge- fällten Entscheidungen der Prisengerichte Englands und der britischen Uebersee- besitzungen und Protektorate. Herausgegeben im Auftrage der Aeltesten der Kaufmannschaft von Berlin. (Loening.) S. 312.

Hulftegger, Otto, Die Bank von England mit besonderer Berücksichtigung der Be- servefrage und der Entwertung der englischen Rente. (Sven Helander.) S. 575.

Kaufmann, Arthur, Vergleichende Untersuchungen über den Schutz der Arbeiter und Angestellten der Großherzogl. Badischen Staatseisenbahnen und der Schweizerischen Bundesbahnen. (Heft 175 der Staats- u. sozialwissenschaftlichen Forschungen, herausg. von Schmoller u. Sering.) (H. Köppe.) S. 183.

Köhne, Carl, Das Recht der Sozialversicherung und der Krieg. (W. Hanauer.) S. 845.

König, Erich, Peutingerstudien [Studien und Darstellungen aus dem Gebiete der Ge- schichte, herausgeg. von H. Grauert, Bd. 9, Heft 1 u. 2]. (Adolf Hasenclever.) S. 175.

Kracht, Ernst, Das Streikpostenverbot. (H. Köppe.) S. 310.

Kretzschmar, H., Das ländliche Genossenschaftswesen im Königreich Sachsen. Eine kritische Untersuchung zwanzigjähriger genossenschaftlicher Entwicklung. (Tübinger Staatswissenschaftliche Abhandlungen, N. F. Heft 8.) (Willy Krebs.) S. 708.

Lansburgh, Die Kriegskostendecekung und ihre Quellen. (O. Heyn.) S. 776.

Leiske, Walter, Die Finanzierung der Hypothekenanstalten deutscher Großstädte für den bestehenden Hausbesitz,. (Walter Hoffmann.) S. 699.

Derselbe, Die gemeindliche Kriegshilfe im großstädtischen Bodenkredit. (Walter Hoffmann.) S. 699.

Ludewig, Hans, Geldmarkt und Hypothekenbank-Obligationen. (Staats- und sozial- wissenschaftliche Forschungen, Heft 181.) (H. Hilbert.) S. 179.

Michel, Erwin, Barzahlung und Kreditverkehr in Handel und Gewerbe in der Pro- vinz Posen. (Georg Obst.) S. 703.

Mitscherlich, Waldemar, Nationalstaat und Nationalwirtschaft und ihre Zukunft. (G. v. Below.) S. 662.

Naumann, Friedrich, Mitteleuropa. (G. v. Below.) S. 662.

Oberst, Oskar, Zur Verschuldung und Entschuldung des bäuerlichen Besitzes in den östlichen Provinzen Preußens. (A. Nußbaum.) S. 429.

Pesl, D., Der Mindestlohn. (H. Köppe.) S. 298.

Pfitzner, Johannes, Die Pan-Amerikanische Finanzkonferenz vom 24. bis 29. Mai 1915. (Kriegswirtschaftliche Untersuchungen aus dem Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel, herausgegeben von B. Harms. Heft 2.) (Eduard Kellenberger.) S. 842.

Plenge, Johann, Wirtschaftsstufen und Wirtschaftsentwicklung. (G. v. Below.) S. 662.

Robbins, Edwin Clyde, Railway Conductors, a study in organized labor. (H. Köppe.) 8. 581.

Rühl, Paul, Grundlagen des Rechnungswesens der Gemeinden. (Johannes Müller.) S. 307.

Schmidt, Karl, Das Rentabilitätsproblem bei der städtischen Unternehmung. (Tü- binger Staatswissenschaftliche Abhandlungen, herausgeg. von Fuchs, Neue Folge Heft 10.) (Richard Passow.) S. 696.

Schmidt, Ludwig W., Die Entwicklung der Handelsbeziehungen der Vereinigten Staaten von Amerika während des ersten Kriegsjahres 1914/15. (Kriegswirtschaftliche Untersuchungen aus dem Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Uni- versität Kiel, herausgegeben von B. Harms. Heft 3.) (Eduard Kellenberger.) S. 842.

Slokar, Johann, Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz I. Antwort auf die Kritik des Dr. Gustav Aubin. (Diese Jahrbücher II. Folge Bd. 49, S. 553 ff.) (Slokar.) S. 565.

Aubin, Gustav, Erwiderung auf diese Antwort. S. 568. Statistisches Jahrbuch der Stadt Cöln für 1914. Im Auftrage des Herrn Oberbürgermeisters

herausgegeben vom Statistischen Amte der Stadt Cöln 1915. (Johannes Müller.) 8. 851.

VI Inhalt.

Strub, O., Laws Handels- und Kolonialpolitik. (Zürcher volkswirtschaftliche Studien, herausgeg. von H. Sieveking, Heft 8) (Gustav Aubin.) S. 427.

Weber, Adolf, Die Lohnbewegungen der Gewerkschaftsdemokratie. Ein antikritischer Beitrag zum Gewerkschaftsproblem. (H. Köppe.) S. 180.

Weck, Hermann, Kriegsschäiden und Kriegsschadenersatz. (Ostlandbibliothek, Bd. 1.) (K. Elster.) S. 847.

Whitney, Nathanael Ruggles, Jurisdietion in American Building Trades Unions. (H. Köppe.) S. 434.

Women in Public Life. The Annals of the American Academy of Political and Social Science Philadelphia, Vol. 56, Whole No. 145. (Käte Winkelmann.) 5. 704.

Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. $S. 173. 297. 427. 565. 689. 837.

Die periodische Presse des Auslandes. $S. 188. 316. 443. 587. 716. 853.

Die periodische Presse Deutschlands. $S. 189. 317. 444. 588. 717. 854.

Volkswirtschaftliche Chronik. 1915. November: S. 731. Dezember: S. 803. Jahresübersicht von 1915: S. 893. 1916. Januar: S. 1. Februar: S. 71. März: S. 149. April: S. 231.

R. Liefmann, Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 1

I.

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft.

Erster Teil.

Heutige Richtungen und Objekt der Wirtschafts- wissenschaft.

Von Robert Liefmann,

Inhalt: Einleitung. Kap. I. Die heutigen methodologischen Bich- tungen. 1. Objektivismus und Subjektivismus. 2. Die tauschwirtschaftlich-soziologische Richtung. 3. Die juristisch-soziologische Richtung. Kap. Il. Das Objekt der Wirtschaftswissenschaft. 1. Allgemeines über die Objektsbestimmung in der Wirtschaftswissenschaft. 2. Versuche einer „sozialen“ Objektsbestimmung in der Wirt- schaftswissenschaft. 3. Der Zweck in der Volkswirtschaft. 4. Die Einheit des Objekts der Wirtschaftswissenschaft.

Einleitung.

In den letzten Jahren hat die Erörterung der sogenannten metho- dologischen Fragen in der ökonomischen Wissenschaft einen der- artigen Umfang angenommen, daß sich immer mehr Stimmen er- heben, die erklären: „Redet doch nicht ewig davon, wie man’s machen soll, sondern macht etwas.“ Die Folge davon ist, daß jetzt keiner mehr über diesen Gegenstand zu schreiben wagt, ohne eine Entschuldigung dafür vorzubringen !). Wenn nun auch ich in diesem Aufsatze zu den dahingehörigen Problemen Stellung nehme, so bedarf das einer Entschuldigung und Begründung ganz besonders. Denn ich habe selbst und zwar in dieser Zeitschrift?) an dem Ueber- maß an methodologischen Erörterungen Kritik geübt und darauf hingewiesen, daß sie ohne positive Leistungen wenig Bedeutung haben. Und hier liegt nun auch meine Legitimation, wenn ich jetzt ebenfalls zu den methodologischen Erörterungen unserer Wissenschaft das Wort ergreife. Ich kann mich dabei stützen auf ein geschlossenes theoretisches System, dessen Grundgedanken und teilweise Ergebnisse

1) Vgl. die Abhandlung meines zu früh verstorbenen Freiburger Kollegen Hans Schönitz, Wesen und Bedeutung des privatwirtschaftlichen Gesichtspunktes in der Sozialökonomie, in der Sammlung: Die private Unternehmung und ihre Betätigungs- formen, 1914. Einleitungsheft.

2) Siebe meinen unten erwähnten ersten Aufsatz.

Jahrb. f. Nationalök. u. Stat. Bd. 106 (Dritte Folge Bd. 51). 1

2 Robert Liefmann,

ich seit einem Jahrzehnt in verschiedenen Arbeiten und Aufsätzen publiziert habe. Es kommen vor allem in Betracht für die Grund- gedanken die beiden Aufsätze in diesen Jahrbüchern: Das Wesen der Wirtschaft und der Ausgangspunkt der National- ökonomie, Jahrgang 1913, Bd. 101, S. 603 ff., und Wirtschaft und Technik, Jahrgang 1914, Bd. 102, S. 721 ff.; sowie für die Er- gebnisse die beiden Aufsätze: Die Entstehung des Preises aus subjektiven Wertschätzungen und Konkurrenz-und Monopoltheorie im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozial- politik, 1912, Bd. 34 und 1915, Bd. 41; ferner noch der Aufsatz: Theorie des Sparens und der Kapitalbildung in Schmollers Jahrbuch, Bd. 36, Heft 4.

Das diesen Arbeiten zugrunde liegende System, das in der Haupt- sache abgeschlossen unter dem Titel „Grundsätze der Volkswirt- schaftslehre“ im Manuskript vorliegt, unterscheidet sich dadurch voll- kommen von allen bisherigen ökonomischen Systemen, daß es auf einer ganz anderen Auffassung der Wirtschaft beruht.

Im Gegensatz zu der gesamten bisherigen Auffassung, welche das Wirtschaften ableitet aus dem beschränkten Vorhanden- sein von Gegenständen der äußeren Natur, es daher in erster Linie mit der Sachgüterbeschaffung verknüpft und so zu einer Verwechslung von Technik und Wirtschaft kommt, ist Wirtschaften nach meiner Ansicht etwas Psychisches, eine be- sondere Art des Disponierens, es ist Nutzen- und Kostenver- gleichen. Nutzen und Kosten sind also nicht Gütermengen, son- dern Lust- und Unlustgefühle, und die wirtschaftliche Aufgabe ist nicht Produktion, Güterbeschaffung, sondern die Erzielung eines Maximums von Lustgefühlen mit einem Minimum von Unlustgefühlen. Die Unlustgefühle, Kosten, sind eigene Arbeitsmühe oder Opfer von Sachgütern. Erstere hat der Wirtschafter nicht in gegebenem Um- fange, sondern jede folgende Arbeitsanstrengung wird stärker als Unlustgefühl empfunden. Nicht die Güter der Außenwelt sind, mit wenigen Ausnahmen, beschränkt vorhanden, sondern nur die mensch- liche Arbeitsfähigkeit ist beschränkt, sie sich anzueignen. Und da- her ist es das wirtschaftliche Problem, wie auf an sich unbegrenzte Bedürfnisse ihrem Umfange nach nicht gegebene Kosten, letzten Endes Arbeitsmühe, aufgewendet werden.

Die schärfste theoretische Formulierung dafür, wie der Wirt- schafter diese Aufgabe löst, ist das Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge: Kosten dürfen nur so weit auf die Befriedigung jeder Bedürfnisart verwandt werden, daß die Erträge, d.h. der Ueberschuß von Nutzen über die Kosten, die mit der letzten auf- gewendeten Kosteneinheit erzielt werden, für alle Bedürfnisse gleich groß sind.

Dieser Satz, der also das wirtschaftliche Handeln jedes einzelnen Menschen bestimmt, gilt nun auch für den gesamten Tausch- verkehr und für die Preisbildung dabei, d. h. er erklärt das

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 3

Angebot und damit den Umfang, in dem die Nachfrage, die auch hier, wie die Bedürfnisse, als unbegrenzt anzusehen ist, be- friedigt wird.

Diese Bemerkungen können für das Verständnis der folgenden methodologischen Erörterungen genügen. Immerhin dürfte es das Eindringen in unsere Gedankengänge erleichtern, wenn man sich die Grundgedanken der in den beiden ersten Aufsätzen in diesen Jahr- büchern enthaltenen Ausführungen etwas zu eigen macht. Und vor alem bitte ich im Auge zu behalten, daß wir nicht etwa, wie die ‚subjektive Wertlehre“, nur einzelne, wenn auch wichtige, Ab- änderungen an der bisherigen Theorie vornehmen, etwa gar auch eine neue „Wertlehre“ liefern wollen, sondern auf Grund unserer anderen, psychischen Auffassung der Wirtschaft sind auch alle unsere Grundbegriffe, vor allem der Kostenbegriff, auch wenn wir dieselben Bezeichnungen anwenden, anders zu verstehen.

Dieses theoretische System, mit dem wir die Grundlage des gesamten tauschwirtschaftlichen Organismus zu erfassen suchen, er- möglichte es uns nun, zu den heute so viel erörterten methodologischen Fragen von einem ganz bestimmten und neuen Standpunkt aus Stellung zu nehmen. Denn ein großer Teil der bisherigen methodologischen Erörterungen leidet daran, daß ihre Verfasser nicht ökonomische Theoretiker waren, wenigstens nicht das Ganze des Tauschverkehrs mit einem einheitlichen, geschlossenen theoretischen System zu er- fassen suchten. Vielmehr sind die meisten von philosophischen Er- örterungen über den Charakter der Nationalökonomie als Kultur- wissenschaft und besonders als Sozialwissenschaft aus- gegangen und haben damit besondere Betrachtungsweisen oder Methoden begründen wollen. Wir wollen demgegenüber nachweisen, daß es sich bei dem heute streitigen Problem der Wirtschaftstheorie nicht um verschiedene Betrachtungsweisen oder Methoden, sondern in erster Linie um verschiedene Auffassungen über das Objekt der Wirt- schaftswissenschaft handelt. Diese Frage aber kann, wie auch die beiden Methodologen zugeben, die in dieselogischen und philosophischen Fragen am tiefsten eingedrungen sind, Max Weber und Alfred Amonn, nicht von der Philosophie her entschieden werden, sondern eine Spezialwissenschaft gewinnt ihr Problem aus der Erfahrung. Eine Wissenschaft wird nicht durch methodologische Untersuchungen geschaffen, sondern entsteht durch wissenschaftliche Behandlung aus der Beobachtung gewonnener Probleme. Wie Ammon sagt: „Das Objekt der Nationalökonomie darf nicht bestimmt werden als ein Objekt für eine noch nicht existierende, erst zu schaffende Wissen- schaft, sondern als das Objekt, das die Eigenart jener Probleme be- grifflich erfaßt ausdrückt, welche zweifellos nach dem gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft als die spezifisch nationalökonomischen, d. h. zu dieser bestimmten, tatsächlich vorhandenen, als National- ökonomie bezeichneten Wissenschaft gehörigen gelten.“ „Es handelt sich darum, jene Probleme herauszuheben, die der Wissenschaft, wie

1*

4 Robert Liefmann,

sie nun einmal historisch geworden ist und heute tatsächlich be- steht, zugrunde liegen, ihren nicht aufhebbaren Kern bilden !).“

Schließlich sei noch betont, daß wir hier nicht Philosophie treiben, sondern für die Nationalökonomie wertvolle Erkenntnisse gewinnen wollen. Wir gehen daher auf die allgemeinen philosophischen Fragen, die sich natürlich an unser Thema knüpfen lassen, so wenig wie möglich ein und suchen nur Feststellungen zu gewinnen. die von jedem möglichen philosophischen Standpunkte aus anerkannt werden müssen.

Kapitel I. Die heutigen methodologischen Richtungen. 1. Objektivismus und Subjektivismus.

Es ist seltsam, in der Geschichte der Nationalökonomie zu be- obachten, wie gewisse methodologische Probleme als Zeit- oder, man könnte auch sagen, als Modeströmungen plötzlich auftauchen, auf das eindringlichste erörtert werden und nach einiger Zeit wieder anderen Platz machen. Das läßt sich allerdings nur in der deut- schen Wissenschaft verfolgen, die fast allein immer das Bedürfnis fühlt, sich mit ihren logischen und philosophischen Grundlagen aus- einanderzusetzen.

Vor 2 Jahrzehnten stand in Deutschland die historische Schule noch auf ihrem Höhepunkte und damals wurden die methodo- logischen Probleme unter der Devise: induktiveoderdeduktive Methode auf das eingehendste erörtert. Heute ist es über diese Streitfrage stillgeworden. Jeder weiß, daß beide Erkenntnismethoden zusammenwirken müssen, daß jeder beide je nach seiner Veranlagung zusammen verwendet und daß Wirtschaftsgeschichte und Wirtschafts- theorie sich nicht im Wege stehen, sondern gegenseitig ergänzen.

Heute ist der Gegensatz von Objektivismus und Sub- jektivismus das Hauptproblem, also ein Gegensatz, der sich auf einem viel engeren Gebiete, auf dem der Wirtschaftstheorie abspielt. Er ist durch die moderne „subjektive Wertlehre“ aufgebracht worden, die die alte objektive zu verdrängen sucht. Aber wir werden sogleich sehen, daß er eben deswegen auch nur für die Wertlehre Bedeutung hat, d. h. eine Lehre, die überhaupt auf einer Verkennung der wirtschaftlichen Aufgaben und Probleme beruht. Zwar hat noch neuestens Rudolf Stolzmann in zwei großen Aufsätzen in dieser Zeitschrift?) zu dem Gegensatz von Objektivismus und Subjektivismus Stellung genommen, aber zu beiden kritisch, und glaubt, sie durch seine

1) Alfred Amonn, Objekt und Grundbegriffe der theoretischen Nationalökonomie, 1911, 8. 12 und 13. Leider folgt Amonn selbst nicht dieser richtigen Feststellung, indem er, dem Begriff Sozialwissenschaft zuliebe, und um die Wirtschaft von der Technik unterscheiden zu können, die gegebenen Probleme und das gegebene Erfahrungsobjekt sehr stark umkonstruiert (s. darüber unten Kap. II).

2) Die Kritik des Subjektivismus an der Hand der sozialorganischen Methode (Band 103), und „Die Kritik des Objektivismus und seine Verschmelzung mit dem Subjektivismus zur sozialorganischen Einheit“ (Band 104).

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 5

„sozialorganische Methode“ beide „überwinden“ zu können. Wir wollen zeigen, daß vom Standpunkt unserer anderen, psy- chischen Auffassung der Wirtschaft jener Gegensatz überhaupt entfällt, daß beide Wertlehren, die objektive wie die subjektive, in Wirklichkeit objektiv sind, da jeder Versuch, „den Güterwert auf ein Maß zu bringen“, objektiv sein muß.

Hier sei zunächst die Uebersicht über die Methodenkämpfe weiter geführt. Das künftige methodologische Hauptproblem scheint mir der Gegensatz von individualistischer und sozialer Betrach- tungsweise odervom privaten undvolkswirtschaftlichen Gesichtspunkt zu sein. Es ist, wie wir zeigen werden, weniger eine Frage nach der Methode als nach dem Objekt, dem Wesen und der Aufgabe der ökonomischen Wissenschaft, und das haben wir daher auch in dem Titel dieses Aufsatzes zum Ausdruck ge- bracht.

Wie sehr das Aufkommen dieses Problems mit den heutigen Zeit- strömungen, mit der modernen Philosophie, ja noch allgemeiner mit heutigen kulturellen und sozialen Tendenzen und Gegensätzen in Zu- sammenhang steht, kann man daraus erkennen, daß die sogenannte soziale Betrachtungsweise, welche den Hauptgegenstand unserer Erörterungen bildet, schon vor einem halben Jahrhundert von Karl Marx, wenn auch vielleicht nicht ganz im Bewußtsein ihres Gegensatzes zu der bisherigen, angewandt worden ist. Aber trotzdem Marx mit seinen Lehren die weiteste Beachtung gefunden und einen ungeheuren Einfluß ausgeübt hat, hat man erst neuestens gemerkt, daß sein Standpunkt in vieler Hinsicht ein ganz anderer war als der der bisherigen Wissenschaft. Er wollte, wenn auch nicht alle, so doch grundlegende wirtschaftliche Erscheinungen, vor allem den Wert und Preis, nicht als ErgebnisindividuellerZiele be- greifen, wie die bisherige Theorie, sondern als „gesellschaftliche* Erscheinungen. Indem wir diese Auffassung bekämpfen, wollen wir zeigen, daß diese gesellschaftlichen Erscheinungen nichts anderes sein können als „gesellschaftliche Zwecke“, was denn auch die konsequentesten und aufrichtigsten Vertreter der sozialen Be- trachtungsweise selbst zugeben; und wir suchen daher weiter nach- zuweisen, daß es solche gesellschaftliche Zwecke im Wirtschaftsleben nicht gibt,sondern dieses alleinausindividuellenZwecken zu erklären ist. Das ist der klare Tatbestand des Problems, den man aber erst aus einem Wust unklarer Sozialbegriffe, mit denen die Vertreter der sozialen Betrachtungsweise operieren, mühsam heraus- schälen muß.

Wir kommen nun unserem Ziele am besten näher, wenn wir zu- erst über den Gegensatz von Objektivismus und Subjektivis- mus in der ökonomischen Wissenschaft einige Worte sagen.

Der Gegensatz von Objektivismus und Subjektivismus knüpft, wie wir Schon hervorhoben, an den Wertbegriff an, der ja den Kern- punkt aller bisherigen Theorien bildet, und bezieht sich damit auch

6 Robert Liefmann,

auf die Preistheorie, die nach allen bisherigen Anschauungen aus der Wertlehre zu entwickeln ist. Da der Preis für alle ökonomischen Theoretiker ein Wertausdruck ist für uns ist er es nicht, weil es überhaupt keine Möglichkeit gibt, Werteallgemein „auszudrücken“ !) ——

welche den Preis durch die Kosten „bestimmen“ will, als sub- jektive die, welche den Preis auf subjektive Wertschätzungen

Auf andere Probleme als die Wertlehre und die Preistheorie nach ihrer bisherigen Auffassung als einer Anwendung der Wertlehre ist der Gegensatz von Objektivismus und Subjektivismus nicht aus- zudehnen. Aber die Wertlehre stand so im Mittelpunkte des Inter- esses, man war so überzeugt, in ihr den Angelpunkt der ganzen

meten Aufsatz: Ueber den Subjektivismus in der Preis- lehre (Archiv £. Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik, Bd. 38, 1914) wohl die Vermutung aus, daß man mit der Antithese Subjektivismus

darfsempfindungen zusammenhängt. Und zweitens über-

Geldlehre) und auf der im letzten Grunde die Unmöglichkeit jeder anderen Erklärung der wirtschaftlichen Vorgänge als mit der psychischen Auffassung beruht (s. darüber unten )

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 7

sieht er, trotzdem ich auf das nachdrücklichste darauf hingewiesen habe, bei seiner Kritik, daß ich ja gerade den Gegensatz zwischen Objektivismus und Subjektivismus in der Wert- und Preislehre durch den Nachweis aufgehoben habe, daß Kosten niemals objektiv als eine Gütermenge, wie in der bisherigen Theorie, sondern auch immer als ein subjektiver Schätzungsbegriff aufzufassen sind. Wegen dieses Gedankens bezeichnete ich schon in meiner Schrift: „Ertrag und Einkommen“ meine Theorie als „rein subjektiv“. Da- gegen ist die österreichische Grenznutzenlehre schon mit ihrem W ert- begriff: Kombination von Nutzen und gegebener Güter- menge, dann aber auch mit ihrer „Preistheorie“ ein höchst unlogisches Gemisch von Objektivismus und Subjektivismus, und Stolzmann hätte, wenn er wirklich den Subjektivismus kritisieren wollte, nicht Böhm-Bawerks Theorie bekämpfen müssen, sondern meine Auffassung.

Für diese hat die Antithese Objektivismus—Subjektivismus gar keine Bedeutung. Sie verschwindet hinter der viel allgemeineren: materialistische—psychische Auffassung des Wirtschaftens. Von letzterer aus sind alle bisherigen Theorien materialistisch und darum auch objektiv und eine Lehre, die einen vom Nutzen verschiedenen Wert zum Grundbegriff macht und glaubt, ein „Maß des Güter- wertes“ feststellen zu können, muß immer objektiv sein. Denn der Wert kann sich immer nur an Gütern, Objekten feststellen oder messen lassen. Mit dem Wertbegriff der Grenznutzenlehre ist da- her die Aufgabe, die sie sich vorsetzte, die tauschwirtschaftlichen Erscheinungen auf subjektive Bedürfnisse zurückzuführen, unmöglich zu lösen. Das ist eine der wichtigsten kritischen Erkenntnisse, die nur auf der Grundlage unseres positiven Systems, d. h. unserer psy- chischen Auffassung der Wirtschaft zu gewinnen war.

Immerhin ist die österreichische Theorie im Verhältnis zur klassi- schen ein Schritt zum Subjektivismus in diesem Sinne, d. h. zur psychischen Auffassung, und man kann behaupten, daß in dieser Richtung die ganze Entwicklung der ökonomischen Theorie seit Jahrzehnten hindrängt. Insofern läßt sich meine rein subjektive, d. h. psychische Theorie als die Vollendung seit langem vorhandener Entwicklungstendenzen in der Wissenschaft auffassen. Denn eine noch subjektivere Theorie kann es nicht geben.

Das wird nun auch heute noch von manchen, die noch mehr zum Objektivismus neigen dabei spielen Erziehung, geistige Be- weglichkeit und vor allem literarisch festgelegte Stellungnahme eine große Rolle gar nicht als ein Vorzug aufgefaßt werden, weil sie auf Grund der materialistischen Auffassung der Wirtschaft, keine rechte Vorstellung von der Aufgabe der Wirtschaftstheorie haben. Die Klassiker mit ihrem praktisch-politischen Zweck, den Volksreich- tum zu fördern, hatten sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht. Die neuere subjektive Werttheorie aber erblickte es als ihre Aufgabe, den „objektiven Wert“, den Preis, und damit den ganzen Mechanismus des Tauschverkehrs auf den „subjektiven

8 Robert Liefmann,

Wert“, der durch den Grenznutzen bestimmt werden soll, zurück- zuführen. Dem lag der richtige Gedanke zugrunde, daß die tausch- wirtschaftlichen Erscheinungen vom Individuum her erklärt werden müssen, und daher knüpft sich vor allem an die subjektive Wert- lehre die sogenannte „individualistische Betrachtungs- weise“, von der wir unten noch sprechen werden. Der Fehler war nur, daß dieser durch den Grenznutzen bestimmte subjektive Wert eine absolut willkürliche Konstruktion ist, daß es ganz unmöglich ist, irgendein „Maß“ oder einen Bestimmungsgrund eines wirklich subjektiven Wertes oder Nutzens anzugeben. Nicht auf einen subjektiven Wert, sondern auf individuelle Bedarfs- empfindungen sind die tauschwirtschaftlichen Erscheinungen zurückzuführen. Denn es ist zweifellos, daß sie es im letzten Grunde sind, welche den ganzen Mechanismus des Tauschverkehrs in Be- wegung setzen. Nicht auf einen angenommenen subjektiven Wert, sondern noch weiter zurück in die Psychologie auf diesubjektiven Bedürfnisse, jedoch ohne diese selbst und ihren Inhalt zu unter- suchen, hat also die ökonomische Theorie zurückzugehen. Und aus dieser ihrer Aufgabe, die allgemeinsten Erscheinungen des Tausch- verkehrs, insbesondere die Preis- und Einkommensbildung zurückzu- führen auf und zu erklären aus subjektiven Bedarfsempfindungen, ergibt es sich von selbst, daß wir unsere Theorie als eine psychische bezeichnen, im Gegensatz zu den bisherigen technisch-materia- listischen, welche mit dem Wertbegriff immer an die Objekte, die Güter anknüpfen. Daher sind von diesem Standpunkte aus alle Theorien mehr oder minder objektive, und wir haben darum schon in unserer ersten Schrift, „Ertrag und Einkommen“ unsere Theorie als eine „rein subjektive“ bezeichnet.

Die anscheinend ganz objektiven Geldausdrücke, die Preise und Einkommen, die scheinbar von den sub- jektiven Bedarfsempfindungen ganz unabhängig sind, auf solche zurückzuführen und aus ihnen zu erklären, das ist unsere Aufgabe. Das ist es, was wir darunter ver- stehen, wenn wir es als Aufgabe der ökonomischen Theorie bezeichnen, den Mechanismus des Tauschverkehrs zu erklären. Das hat auch v. Zwiedineck nicht erkannt, indem er das Problem der „Entstehur les Preises aus subjektiven Wertschätzungen“, das ich in der vc m kritisierten Arbeit schon dem Titel nach allein be- handelte, mit der Frage nech den Ursachen von Preisverände- rungen vermengi. Daß alle grundlegenden tauschwirtschaftlichen Vorgänge aber letzten knürs auf subjektive Bedarfsempfindungen zurückgehen und daher auch aus ihnen erklärt werden müssen, dürfte bei einigem guten Willen schließlich wicht schwer einzusehen sein. Und daraus ergibt sich, daß die ökonomische Theorie, die diese Aufgabe hat, rein subjektiv sein muß. Sie scheidet bewußt alle objektiven Momente aus, denn sie widersprechen ihrer Aufgabe. Ist einmal die Beziehung zwischen dem objektiven Preise und sub- jektiven Bedarfsempfindungen, wie wir statt Wertschätzungen

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 9 besser sagen, richtig erkannt und kausal erklärt, wozu bisher noch nicht einmal die kleinsten Ansätze vorlagen, so kann man auch die objektiven Preis-„Bestimmungs“- d. h. -Beeinflussungsgründe heran- ziehen, was in der Lehre von den Preisveränderungen geschieht.

Wenn auch eine Tendenz zum Subjektivismus in der neueren Ent- wicklung der ökonomischen Theorie zweifellos ist, so ist doch erst neuerdings auch der Objektivismus ins Extrem getrieben worden. Es ist der konsequenteste Versuch, auf Grund der materialistischen Auffassung der Wirtschaft auch eine wirklich materialistische Theorie aufzubauen. Er findet seine Begründung darin, daß es eben dem Subjektivismus, insbesondere der Grenznutzenlehre, nicht gelungen war, die tauschwirtschaftlichen Erscheinungen besser zu erklären. Man erkannte nicht, daß das gerade die Folge der materialistischen Auffassung und der nur an die Güter, also an die Objekte der Wirtschaft anknüpfenden Wertlehre, aber nicht der subjektivistischen oder individualistischen Betrachtungsweise an sich zuzuschreiben war, daß diese vielmehr bisher überhaupt weit entfernt war, rein subjektiv zu sein.

Diese neueste objektivistische Richtung treibt den Objektivismus auf die Spitze, indem sie als Gegenstand der Wirtschaftstheorie überhaupt nicht mehr menschliche Handlungen, sondern „die Ver- änderungen, die sich in den Güterquantitäten voll- ziehen“, bezeichnet. Sie abstrahiert also ganz von den Individuen und betrachtet ausschließlich die Objekte, die Güter. Den be- deutendsten Versuch dieser Richtung, die man als die „objektiv-mathe- matische“ bezeichnen kann !), hat im Anschluß an ältere Vorgänger wie J. B. Clark und S. N. Patten in Amerika, neuestens Joseph Schumpeter mit seinem Buche: Das Wesen und der Haupt- inhalt der theoretischen Nationalökonomie, 1908, unter- nommen. Nach ihm ist Gegenstand der ökonomischen Theorie „ein System von zusammengehörigen Quantitäten bestimmter Güter“. Diese Güterquantitäten sollen sich in einem natürlichen Gleich- gewichtszustand (!), der mathematisch durch eine Reihe von Gleichungen ausgedrückt wird, befinden, und Aufgabe der Theorie soll sein, „jene Aenderungen der Quantitäten abzuleiten, welche im nächsten Augenblicke vor sich gehen werden“ (S. # “und 33).

Bei dieser Lehre muß anerkannt werden, daß sie #: :gstens das allgemeine gegenseitige Bedingtsein der tauschwirtschaftlichen Er- scheinungen, der Preise und Einkommen, empfindet, während die bisherige Theorie so ungeheuer naiv den Preis jedes Produktes auf

1) Uebrigens teilen nicht alle Nationalökonomen, welche eine mathematische Unter- suchungs- oder Darstellungsmethode anwenden, diesen extremen objektiv-materialistischen Standpunkt; insbesondere ist das nicht der Fall bei H. H. Gossen und L. Walras. Aber auch sie und alle, die zur Erklärung der tauschwirtschaftlichen Erscheinungen Mathematik anwenden, arbeiten doch mit einem qnantitativ aufgefaßten Gleichge- wichtszustand und glauben, die Tauschvorgänge auf Gleichungen bringen zu können, was dem Wesen der wirtschaftlichen Erscheinungen vollkommen widerspricht.

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seine individuellen Kosten zurückführen will. Aber Schumpeter er- kennt nicht, daß dieses gegenseitige Bedingtsein, die „Interdependenz“ der Preise und Einkommen, wie er es nennt, nur durch das Geld bewirkt wird, und daß man die Gelderscheinungen, die ja die Pro- bleme der ökonomischen Theorie bilden, nicht durch Quantitäts- gleichungen, sondern nur dadurch erklären kann, daß man auf die hinter den Geldausdrücken stehenden psychischen Schätzungen und Erwägungen zurückgeht. Schumpeter ist eben auch, wie alle bisherigen Nationalökonomen, in dem Irrtum der materialistischen Auffassung befangen, hinter dem Geldschleier nur die Vorgänge der Produktion zu sehen und sie für Wirtschaft zu halten.

Uebrigens liegen auch v. Wiesers Abhandlung im Grund- riß der Sozialökonomik solche Anschauungen von Quantitäts- gleichungen zugrunde, indem er überall von den Gütern spricht, „die im wirtschaftlichen Mengenverhältnisse stehen“.

Alle derartigen Anschauungen bedeuten nun eine solche Ver- kennung des Wesens der wirtschaftlichen Erscheinungen und der Aufgabe der Nationalökonomie, die es unter allen Umständen mit Bewertungserscheinungen und nicht mit Quantitäten zu tun haben, daß wir über diesen extremen Materialismus am besten ein- fach zur Tagesordnung übergehen, zumal seine Nichtigkeit schon durch das Fehlen aller positiven Resultate, auch nur der kleinsten Erweiterung unseres Verständnisses der wirtschaftlichen Zusammen- hänge genügend dargetan wird. Wenn ich natürlich auch nicht erst in Widerspruch gegen Schumpeters extremen Materialismus zu meiner Theorie und zur Erkenntnis des eigentlichen Wesens des Wirt- schaftlichen gelangt bin, so scheint es doch, als ob gewissermaßen die allgemein übliche materialistisch-quantitative Auffassung erst ins Extrem getrieben werden mußte, bevor der Boden für eine richtige Auffassung des Wirtschaftlichen und für den Neubau der öko- nomischen Theorie reif war.

Die hergebrachte technisch-materialistische Auffassung der Wirt- schaft ist es nun auch, welche die verschiedenen heutigen Richtungen einer „sozialen Betrachtungsweise* veranlaßt hat. Denn das ist eines der wichtigsten Ergebnisse unserer Betrachtungen, das wir hier vorausnehmen auf dieser Grundlage war eine Unterscheidung von Wirtschaft und Technik nur dadurch möglich, daß man nur die Tauschvorgänge als Wirtschaft ansah. Daher klammert sich diese Richtung an die Begriffe Sozialökonomie und Sozialwissen- schaft und an eine soziale Betrachtungsweise Kein Zweifel: wenn eine materialistische Theorie überhaupt möglich wäre, könnte sie nur eine gesellschaftliche, soziale sein. Aber sie wäre dann doch nur eine technische, keine wirtschaftliche nach dem allbekannten Erfahrungsobjekt. Das zu zeigen, soll jetzt unsere Aufgabe sein.

2. Die tauschwirtschaftlich-soziologische Richtung.

Wie wir schon sagten, hat man in neuerer Zeit den Gegensatz von Objektivismus und Subjektivismus zu „überwinden“ und beide

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Richtungen zu verschmelzen gesucht. Erörterungen darüber spielen seit dem Beginn dieses Jahrhunderts in der Wirtschaftstheorie eine wachsende Rolle und machen den Hauptinhalt der heute beliebten methodologischen Ausführungen aus. Sie wurden veranlaßt durch die Tatsache, daß den bisherigen Theorien trotz ein Jahrhundert langer Bemühungen und trotz der noch sehr verbreiteten Anschauung von dem großen Fortschritt, der der Grenznutzenlehre zu danken sei, ein wirklicher Erfolg nicht beschieden war. So kam man auf den Gedanken, den Gesichtspunkt oder die Betrachtungsweise der wirtschaftlichen Erscheinungen zu ändern, und versuchte, an Stelle der bisherigen „individualistischen Betrachtungs- weise“ eine „soziale Betrachtungsweise“ zu setzen. Ur- sprünglich erschien dieser Gegensatz mehr als eine Frage des Aus- gangspunktes, also der Methode, ob man vom Individuum oder von den „sozialen Gesamtheiten“ der „Volkswirtschaft“ u. dgl. ausgehen solle. Wir werden aber unten zeigen, daß es sich um eine ganz andere Auffassung des Objekts der Wissenschaft und damit dieser selbst handelt, daß um das Resultat der Untersuchung vor- wegzunehmen die soziale Betrachtungsweise bedeutet, im Tausch- verkehr ein selbständiges „Zweckgebilde“ zu sehen.

Die meisten dieser Erörterungen sind auf der Stufe allgemein- philosophischer und methodologischer Untersuchungen stehen ge- blieben und haben zu einem systematischen Aufbau einer neuen Theorie auf anderer Grundlage nicht geführt. Praktisch kommen sie aber alle auf dasselbe Resultat hinaus: an Stelle der engen Beziehungen zur Geschichte, welche die historische Schule suchte, fordern sie alle eine enge Verbindung mit der Soziologie, der Gesellschafts- Iehre, laufen darauf hinaus, den Unterschied zwischen dieser und der Wirtschaftswissenschaft zu verwischen. Grundlegend ist für alle diese Forderungen der Gedanke der Sozialwissenschaft, von der die Wirtschaftswissenschaft ein Teil sei. Daher wird sie auch mit Vorliebe als Sozialökonomik bezeichnet und an den Begriff des Sozialen knüpfen sich die Anregungen auf Umgestaltung und Neuorientierung der ökonomischen Wissenschaft, auf seiner All- gemeinheit und Verschwommenheit beruhen auch die Fehler dieser Richtungen und Bestrebungen, weshalb alle „Sozialbegriffe“ in der Wirtschaftswissenschaft mit großem Mißtrauen zu betrachten sind.

Der Gedanke der Begründung einer „sozialen“ Theorie lag eigentlich ziemlich nahe. Er hatte auch eine gewisse Berechtigung angesichts des Umstandes, daß die bisherigen Theorien von der „sozialen“, d. h. gegenseitigen, allgemeinen Bedingtheit der grundlegenden tauschwirtschaftlichen Erscheinungen, der Preise und Einkommen, gar keine Ahnung hatten, sondern in der Tat in diesem Sinne „atomistisch“ waren. Aber gerade in diesem Sinne sind jene neuen Richtungen auch nicht „sozial“, gehen sie nicht über die früheren hinaus. Vielmehr sind sie sozial in dem Sinne, daß sie gesell- schaftliche Momente, vor allem die Rechtsordnung, also andere Zweige der allgemeinen „Sozialwissenschaft“ nicht nur mit

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heranziehen, sondern sogar zur Bestimmung des Gebiets der Wirt- schaftswissenschaft anwenden wollen. Man kann diese Richtungen, weil sie alle die Wirtschaftswissenschaft oder doch den Zweig, den sie „Sozialökonomik“ nennen, in enge Verbindung mit der Sozio- logie bringen, soziologische Richtungen nennen. Sofern dabei auch die Frage zugrunde liegt, inwieweit die Einzelwirtschaft über- haupt Gegenstand der Volkswirtschaftslehre ist und ob als solcher nicht nur die „sozialen Verkehrsbeziehungen“ oder ein durch die Rechtsordnung geregelter einheitlicher „sozialer Wirtschaftskörper“, eine „Gesamtwirtschaft“ oder „Volkswirtschaft“ zu betrachten sei, werden diese Richtungen uns unten bei der Erörterung des Objekts der ökonomischen Theorie noch beschäftigen, wo zu ihnen abschließend Stellung genommen wird. Hier kommt es zunächst nur darauf an, die Gründe des Entstehens dieser Richtungen und ihren Zweck aus dem heutigen Zustand der Wissenschaft zu erklären.

Man könnte zwei Gruppen der soziologischen Richtung unter- scheiden, von denen die eine etwaals juristisch-soziologische, also mit stärkerer Betonung der Rechtsordnung, die andere als tauschwirtschaftlich-soziologische zu bezeichnen wäre. Doch gibt es Uebergänge (Amonn), und mehrere ihrer Vertreter werden untereinander wieder gewisse Verschiedenheiten ihrer An- sichten behaupten, manche Nationalökonomen haben überhaupt nur in Andeutungen zu ihnen Stellung genommen.

Der eigentliche Urheber der „sozialen Betrachtungsweise“ ist Karl Marx, was man aber ein charakteristischer Beweis für die Schwerfälligkeit in unserer Wissenschaft erst ein halbes Jahr- hundert nach Erscheinen seines „Kapital“ angefangen hat zu er- kennen. Wir wollen nun hier nicht darauf eingehen, daß Marx nicht nur kausal erklären, auch nicht, wie Schönitz es aus- drückt, „den sozialen Gehalt der Verkehrsvorgänge deuten, ihre Kulturbedeutung feststellen“ wollte, sondern daß er die Tendenz hat, die Ansprüche einer bestimmten sozialen Klasse zu begründen. Wir können davon absehen, weil uns hier ja nur die methodo- logische Grundlage seines Werkes interessiert.

Es ist möglich, daß Marx als erster empfunden hat, was heute so viele zur Forderung einer sozialen Betrachtungsweise veranlaßt, daß man vom Standpunkt der materialistischen Auffassung der Wirt- schaft das allgemeine gegenseitige Bedingtsein der grundlegenden tauschwirtschaftlichen Erscheinungen, der Preise und Einkommen, das durch das Geld herbeigeführt wird, nicht erkennen und erklären konnte. Wenn er das wirklich erkannt hat mir scheint es zweifel- haft —, wäre es sein größtes wissenschaftliches Verdienst. Aber er hat diesem Gedanken dann nur sehr unvollkommen Ausdruck ge- geben, und ich kann die heutige Marxinterpretation, die alles, was heute die soziale Betrachtungsweise fordert, in sein Werk hinein- geheimnissen will, nicht mitmachen. Richtig ist, daß Marx den Wertbegriff, der vor ihm, nach ihm und auch bei ihm selbst den Grundbegriff der Wirtschaftswissenschaft bildet, ganz anders auf-

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gefaßt hat als die übrigen Nationalökonomen. Inwieweit der Preis als Wertausdruck aufzufassen sei, diese Hauptfrage, durch die die Wertlehre erst Bedeutung für die ökonomische Theorie bekommt, geht zwar aus seinen Ausführungen nicht klar hervor. Im dritten Bande wird davon gesprochen, daß die Güter nicht zu ihren „Werten“ verkauft werden. Aber Wert bedeutet für ihn nicht individuellen, sondern „gesellschaftlichen“ Wert. Diese Auffassung beruht letzten Endes natürlich auf der allgemeinen Verwechslung von Wert und Preis, die nicht nur der objektiven Wertlehre zugrunde liegt, sondern auch bei der subjektiven Wertlehre in der allgemeinen Auffassung zur Geltung kommt, daß der Preis ein Aus- druck eines subjektiven Wertes sei, daß, wenn ich mir einen Rock für 50 M. kaufe, ich ihn gleich 50 M. schätze.

Aber der Gedanke des gesellschaftlichen Wertes ist zweitens doch offenbar auch durch eine dem ganzen Sozialismus als einem ge- sellschaftlichen System zugrunde liegende Auffassung herbeigeführt worden, wonach die tauschwirtschaftlichen Erscheinungen nicht das Ergebnis individueller Zwecke, sondern von Klassen- kämpfen seien. Es ist klar, daß diese Auffassung das Wesen der Wirtschaft und die Aufgabe der Wirtschaftstheorie verkennt. Das Wesen der Wirtschaft besteht eben in der Verfolgung eines in- dividuellen Zwecks: Bedarfsbefriedigung, und die Aufgabe der Wirtschaftstheorie, wie man sie sich seit 100 Jahren auch immer gestellt hat, besteht darin, die tauschwirtschaftlichen Erscheinungen aus den individuellen Handlungen zu erklären, die der eigenen Bedarfsbefriedigung dienen. Daher darf die Wirt- schaftstheorie unter keinen Umständen bei der Beobachtung stehen bleiben, daß die Wirtschaftssubjekte dabei als gesellschaftlich ein- heitliche Gruppen und Klassen aufgefaßt werden können, sie darf nicht das Vorhandensein bestimmter Klassen von vornherein annehmen. Sondern, wenn sie sich überhaupt mit Klassenerscheinungen zu be- schäftigen hat, die ja weit über das ökonomische Gebiet hinaus- gehen, so hat sie sie aus ökonomischen Gründen, d. h. eben- falls aus Zwecken individueller Bedarfsbefriedigung zu erklären.

In der Tat ist es eine völlige Verkennung der Aufgabe der Wirt- schaftswissenschaft, wenn man sich, wie der Sozialismus, und dazu noch so einseitig und übertrieben, gleich „Kapitalisten“ und „Ar- beiter“ als getrennte Klassen einander gegenübergestellt denkt und aus ihrem Kampf alle tauschwirtschaftlichen Erscheinungen er- klären zu können glaubt!). Es ist kaum einzusehen, was die ganzen Erörterungen von Marx überhaupt noch mit wirtschafts- theoretischen Aufgaben zu tun haben, wo das Ziel jeder Erwerbs- tätigkeit, die eigene Bedarfsbefriedigung so völlig außer Betracht

1) Aus diesem Grunde bekämpfte ich von jeher das bei vielen Nationalökonomen so beliebte Operieren mit den Schlagworten „Kapitalismus“ und „kapitalistisch“, womit eben auch diese Klassenbegriffe als Axiom von vornherein in die Wirtschaftstheorie hineingetragen werden.

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bleibt. Seine ganzen wirtschaftstheoretischen Erörterungen sind für Marx meines Erachtens auch nur ein Mittel für seine klassen- politischen Tendenzen.

Denn, vom Standpunkt einer wirklichen Erklärung der tausch- wirtschaftlichen Vorgänge aus gesehen: wohin kommt Marx mit diesem Gedanken eines gesellschaftlichen Wertes? Das Resultat ist doch eine für den heutigen Standpunkt geradezu kindliche Wertlehre. Er läßt ihn durch „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ bestimmt werden, also durch einen weiteren, anscheinend auch „ge- sellschaftlichen“ Begriff. Aber Marx selbst muß gelegentlich zu- geben, daß die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit nur dann einen Wert bedeutet hervorbringt, kann man nach dieser Theorie ruhig sagen, wenn sie sich in Produkten verkörpert, die ein „gesellschaft- liches Bedürfnis befriedigen“!). Also der dritte „gesellschaft- liche“ Begriff! Gesellschaftliches Bedürfnis bedeutet aber, bei Lichte besehen, nichts anderes als Produkte, für die subjektive Wert- schätzungen, subjektive Bedürfnisse vorhanden sind. Daß sich nach diesen die Kostenaufwendungen richten und daraufhin auf Grund des Gewinnstrebens der Produzenten ein Angebot zustande kommt, das hat Marx nicht erkannt, wie er überhaupt das Gewinn- streben und dahinter die Bedürfnisse als Regulator des Tauschver- kehrs nicht erkannt hat. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit dient nur dazu, diese notwendige Beziehung auf subjektive Bedarfs- empfindungen zu verschleiern, weil sie eben in seine Tendenz nicht paßte. . Marx hat vielleicht erkannt, daß der Preis kein subjektiver Wertausdruck ist, daß er aber irgendwie mit subjektiven Bedürfnissen in Beziehung stehen muß, das konnte ihm kaum entgehen; er konnte es aber ebensowenig wie jemand sonst erklären. Daher seine „soziale Betrachtungsweise“, die also bei ihm ebensowenig wie bei ihren neuen Anhängern eine Vertiefung, ein Eindringen in „ge- sellschaftliche“ Zusammenhänge, sondern ganz einfach eine Ver- legenheitsmaßregel ist, das Eingeständnis der Unfähigkeit, an- scheinend objektive „soziale“ Erscheinungen wie den Preis auch auf subjektive Bedarfsempfindungen zurückzuführen. Marx kam ebenso- wenig weiter wie andere, weil er eben auch mit seiner „sozialen“ Betrachtungsweise hinter dem Geldschleier nicht individuelle Er- wägungen, Nutzen- und Kostenvergleichungen, sondern nur technisch- materialistisch die Vorgänge der Produktion sah.

Das Gesagte genügt vollkommen zur Kritik des Marxschen Systems als Versuch einer Erklärung des Tauschverkehrs.. Auf weitere Ungeheuerlichkeiten desselben, Reduzierung qualifizierter Arbeit auf einfache, Aequivalententausch, Mehrwertlehre usw., brauchen wir nicht näher einzugehen.

Von der wirklichen „sozialen“ Bedingtheit aller Geldausdrücke, aller Werte und Preise, von der Tatsache, daß durch das Geld alle „Werte“ und alle Preise im Zusammenhang miteinander stehen, hat

1) Das Kapital, 2. Aufl., S. 85.

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Marx ebensowenig eine Ahnung wie alle Nationalökonomen bis in die neueste Zeit, und es ist deshalb durchaus abzulehnen, wenn neuere Marxinterpreten versuchen, in seiner Lehre eine tiefsinnige „soziale“ Theorie zu erblicken. Nur die Unklarheit über das Wesen einer solchen kann das ermöglichen, und man kann in der Tat, da die Erörterungen des dritten Bandes des „Kapital“ mit denen des ersten und zweiten kaum zu vereinigen sind, sehr viel in ihn hinein- interpretieren. Es ist aber sehr zu bedauern, daß auch heute immer noch tüchtige jüngere Kräfte in der Nationalökonomie sich zu solcher Interpretation verleiten lassen, statt das wirtschaftliche Leben zu beobachten und daran neue Theorien anzuknüpfen.

Der gewaltige Einfluß von Marx hat aber, wenn auch erst in neuester Zeit, viel dazu beigetragen, die „soziale Betrachtungsweise“ immer mehr zu verbreiten. So faßte man insbesondere die Ein- kommensbildung, da man sie und das gegenseitige Bedingtsein aller Einkommen nicht aus der Preistheorie erklären konnte, als ein Ergebnis des Kampfes der zwei großen Klassen auf, in die der Sozialismus alle tauschwirtschaftlichen Tätigkeiten einzuschachteln suchte, bzw. die er allein beobachtete, der Kapitalisten und Arbeiter. Und auch die historische Schule machte sich das zunutze, alles nur als Folge der „sozialen Klassenbildung“ anzusehen, zog diese Er- scheinungen in das Gebiet der Wirtschaftswissenschaft hinein und betrieb so ihre Vermischung mit der Soziologie.

Es ist zuzugeben, daß die Betrachtung der Einkommen als das Ergebnis sozialer Klassenkämpfe schon einen gewissen Fortschritt bedeutet gegenüber der ganz unzureichenden, auch logisch unmög- lichen bisherigen „atomistischen“ Auffassung, die jedes Einkommen als Entgelt für die spezielle Leistung betrachtete und von der allseitigen Verknüpftheit aller Einkommen als Preise keine Ahnung hatte. Aber der richtigen Erkenntnis der gegenseitigen Bedingtheit aller Preise und Einkommen durch das Geld kam man damit doch nicht näher, die Soziologie ist eben unfähig zur Erklärung der speziell wirtschaftlichen Geldtauscherscheinungen, die unweigerlich auf das Individuum zurückführen muß. Und indem sie sich mit den Er- scheinungen der Klassenbildung beschäftigte, die weit über das ökonomische Gebiet hinausgehen und einer ganz anderen Wissenschaft, der Gesellschaftslehre, angehören, hat die Nationalökonomie die eigentliche Aufgabe der Wirtschaftstheorie, die Erklärung der tausch- wirtschaftlichen Vorgänge aus den individuellen Bedarfsempfindungen, versäumt.

Merkwürdigerweise hat die soziologische Betrachtungsweise, die Marx, wenigstens an vielen Stellen seines Buches, zugrunde legt, erst in der neuesten Zeit Schule gemacht, vor allem bei R. Hilfer- ding, Böhm-Bawerks Marxkritik, in „Marxstudien“, Bd. 1, 1904, der gegen v. Böhm-Bawerk scharf den ganz anderen Gesichtspunkt von Marx betont, dabei aber auch selbst sehr viel interpretieren und

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hinzukonstruieren muß, ohne doch in den Grundlagen zu klareren Erkenntnissen zu kommen.

Vielleicht sind es auch solche Gedanken und Einflüsse gewesen, die Max Weber, der ja neuerdings immer mehr zur Soziologie übergeht, allerdings nur ganz gelegentlich, auf dem ersten Soziologen- tag (Verhandlungen, S. 267) Veranlassung gaben, sich mit dem In- halt der Sozialökonomik zu beschäftigen. Er will sie nur bei den Tauschvorgängen als vorliegend ansehen. In der üblichen Weise knüpft er dabei an die Mittel der Bedarfsbefriedigung an und meint, daß sich „die Sozialökonomik nur mit der Analyse derjenigen Mittel zur Bedarfsbefriedigung befaßt, welche denkbarerweise Gegen- stand eines Tausches werden können“. An dieser Abgrenzung ist gegenüber zahlreichen anderen, die wir gleich kennen lernen werden, anzuerkennen, daß sie sich von der Verwendung unklarer sozio- logischer Begriffe fernhält.

Aber wenn Weber einmal versuchen würde, auf dieser Grundlage positive ökonomische Theorie zu treiben, würde er sich leicht überzeugen können, daß man die Tauschvorgänge ohne die Beziehung auf die wirt- schaftlichen Erwägungen der Einzelwirtschaften nicht erklären kann, also immer zu einer psychischen Auffassung der Wirtschaftslehre ge- drängt wird. Zwar sind auch wir der Meinung, daß allein die kompli- zierten Erscheinungen des Tauschverkehrs mit Geld es sind, welche zu einer Beschäftigung mit wirtschaftlichen Problemen und zu einer Wirt- schaftswissenschaft führten. Aber es ist leicht einzusehen, daB auch diese Tauschvorgänge nicht isoliert betrachtet werden können, wie es die extremen Objektivisten wollen, die die Veränderungen in den Güterquantitäten untersuchen, sondern man hat auch hier, wie in allen Wissenschaften, nach der Verursachung zu fragen und kann daher nicht davon absehen, was die bisherige Theorie sozusagen unbewußt, von selbst als ihre Aufgabe ansah, die Tauschverkehrsvorgänge auf die wirtschaftlichen Handlungen und Erwägungen der einzelnen Menschen zurückzuführen. Ohne Bezugnahme auf sie, die den An- stoß zu allem geben, läßt sich eben der Mechanismus des Tausch- verkehrs nicht erklären. Die Preise sind, trotz aller Bedingtheit durch gesellschaftliche Momente, für den Wirtschaftstheoretiker, der ihr Wesen und ihre Entstehung untersucht, nicht anders als in- dividualistisch zu erklären. Es ist und bleibt das Zentralproblem der Wirtschaftstheorie zu zeigen, wie durch ein allgemeines Tauschmittel die wirtschaftlichen Erwägungen der Einzelnen enorm erleichtert und die Mögliehkeiten individueller Bedarfsbefriedigung gewaltig ge- steigert werden. Mit den „Mitteln zur Bedarfsbefriedigung“ befaßt sich die Sozialökonomik überhaupt nicht; so lange man an dieser technisch-materialistischen Auffassung festhält, muß jeder Fortschritt der Wirtschaftstheorie vergeblich bleiben.

‚Daß es, abgesehen von der gleich zu besprechenden juristisch- soziologischen Betrachtungsweise, so lange gedauert hat, bis eine rein tauschwirtschaftliche Auffassung, wie sie Marx wenigstens teil-

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weise vertritt, auch nur prinzipiell gefordert wurde, hat darin seinen Grund, daß in dieser Lehre, konsequent durchgeführt, von allen wirtschaftlichen Begriffen, die Beziehung auf eine Einzelwirtschaft haben, also Nutzen, Kosten, Wert im subjektiven Sinn, Einkommen, abstrahiert werden müßte. Ihre Vertreter haben aber niemals gezeigt, was dann von Wirt- schaftstheorie noch übrigbleiben würde, noch auch jemals versucht, eine solche „reine Sozialökonomik* zu schaffen, ein deutlicher Beweis dafür, daß Wirtschaftstheorie und Gesellschaftstheorie etwas Verschiedenes sind. Ferner ist Marx’ Lehre weit davon ent- fernt, eine rein gesellschaftliche Theorie zu sein. Sie beruht ganz auf der Grundlage der klassischen objektiven Werttheorie und ihrer Grundfehler (Lehre vom Aequivalententausch). Die zu errichtende Gesellschaftstheorie hat sich von der überlieferten, wenn auch noch so falschen Wirtschaftstheorie nie emanzipieren können. Noch heute ist man so sehr im Banne der wirtschaftlichen, individualistischen Auf- fassung, die ja auch sozusagen die natürliche ist und die wirtschaft- lichen Begriffe so auffaßt, wie sie im täglichen Leben gebraucht werden, d. h. eben vom Standpunkt des Individuums aus, daß man zu der gesellschaftlichen Auffassung erst allmählich erzogen werden mußte. Das hat der Sozialismus denn auch besorgt, und heute stehen sehr viele der Vertreter einer „sozialen“ Betrachtungsweise der wirtschaftlichen Erscheinungen, wenn auch unbewußt, unter dem Eindruck seiner Klassentheorie und ihrer Bedeutung für die Erklärung der tauschwirtschaftlichen Vorgänge. Unklare Sozialbegriffe, wie So- zialkapital, sozialer Zweck, Sozialwirtschaft, sozialer Gesamtkörper und viele andere treiben in der „Sozialökonomik“ ihr Unwesen, und neuerdings kommen manche Vertreter dieser Richtung dahin, daß die „Sozialökonomik“ überhaupt nicht mehr durch das Oekonomische, das nicht einheitlich erfaßbar sei, sondern vor allem durch das „Soziale“ bestimmt werde, und glauben, sie als einen Teil der „Sozialwissen- schaft“ begreifen zu können, ohne zu erkennen, daß deren Inhalt äußerst unbestimmt ist.

Die Auffassung solcher Sozialbegriffe wird schließlich so zur fixen Idee, daß ihre Vertreter gar nicht mehr erkennen, daß nur die Individuen es sind, die wirtschaften, daß sie die Einzelwirtschaften überhaupt nicht mehr sehen: „vom Standpunkt der sozialwissen- schaftlichen Untersuchung der wirtschaftlich zusammenlebenden Menschen gibt es jene supponierten Einzelwirtschaften überhaupt nicht mehr“ (!Stam mler), oder: „Nur die Volkswirtschaft ist Wirt- schaft, Wirtschaft im engeren Sinne“ (v. Schulze-Gävernitz). Es führt das dann dahin, daß sie den Tauschverkehr, die „Volkswirt- schaft“ als eine „Gesamtwirtschaft“ (Diehl), als ein „soziales Zweck- gebilde“ (Stolzmann) ansehen, ihn also, durch den unzutreffenden Ausdruck Volkswirtschaft irregeführt, selbst für eine Wirt- schaft mit eigenen Zwecken halten, sich jedenfalls niemals darüber Rechenschaft ablegen, daß ihre Sozialbegriffe willkürliche Konstruktionen sind, die im wirtschaftlichen Leben keine Unterlage

Jahrb. f. Nationalök. u. Stat. Bd.'106 (Dritte Folge Bd. 51). 2

18 Robert Liefmann,

finden. Viele sprechen auch vom Tauschverkehr als einer „Verkehrs- gesellschaft“, ein fürchterlicher Ausdruck, der typisch die Verwechs- lung von Wirtschaftslehre und Soziologie charakterisiert, welch letz- tere sich Beziehungen der Menschen zueinander nicht anders als eine Einheit vorstellen kann. Man verkennt damit das Wesen der Wirtschaft und der tauschwirtschaftlichen Beziehungen, welche keinem „Zusammenwirken“, keinen „Gemeinschaftsbeziehungen“, mit anderen Worten keinen gleichgerichteten, sondern ent- gegengesetzten Zwecken und Interessen ihr Entstehen ver- danken, und daher nicht als ein „Gesamt“-Begriff aufgefaßt werden können.

Die Tatsache, daß nur die Individuen wirtschaften, mit andren Worten dienotwendige Beziehung aller wirtschaftlichen Erscheinungen zur Bedarfsbefriedigung, wird immer wieder verkannt, die Einzelnen werden nur als „dienendes Glied“ der „sozialen Gesamtwirtschaft“ (Diehl), ihre Tätigkeit nur als „gesellschaftliche Funktion“ (Hilfer- ding u.a.) aufgefaßt. Es ist das eine völlige Verkennung des Wesens der Wirtschaft, welche auf der materialistischen Auffassung, der Ver- wechslung von Wirtschaften und Produzieren beruht. Sah man das Wirtschaften im Produzieren, so konnte man schließlich gradeso gut sagen, die ganze Volkswirtschaft produziere wie der Einzelne, doch müßte man dann konsequent zu dem Resultat kommen, daß nur die Weltwirtschaft produziere, also allein Wirtschaft sei. Aber man kommt eben mit dieser technischen Auffassung niemals zur Lösung der Probleme, die sich die Wirtschaftstheorie seit einem Jahrhundert gestellt hat, die zweifellos ihre Hauptaufgabe bilden und aus der Betrachtung des wirtschaftlichen Lebens, das man zu ver- stehen sucht, gewonnen sind, der Frage, wie die tauschwirtschaft- lichen Vorgänge auf subjektive Bedarfsempfindungen zurückgehen.

Jene Verwechslung der wirtschaftlichen Probleme mit solchen der Gesellschaftslehre ist nun offenbar für die Entwicklung beider Wissenschaften sehr hinderlich. Aber da sie in dem „sozialen“ Zuge unserer Zeit liegt, wird schwer gegen sie anzukämpfen sein. Vielleicht wird sie erst völlig verschwinden, wenn man anfangen wird, zu er- kennen, daß der Kulturfortschritt nicht in zunehmender Sozialisierung, wie man heute anzunehmen pflegt und unter der Einwirkung des Krieges sich vielleicht noch mehr anzunehmen gedrängt fühlt, als vielmehr in zunehmender Individualisierung der Menschen, ihrer Er- ziehung zu Individuen zu liegen scheint !)!

3.} Die juristisch-soziologische Richtung.

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die gesellschaftliche Betrachtungs- weise von Marx in der ökonomischen Wissenschaft Nachfolger fand. Erst im Jahre 1896 traten gleichzeitig zwei Schriftsteller auf, die, offenbar von Marx beeinflußt, die soziale Betrachtungsweise vertraten

1) Vgl. über diese Frage meine Schrift: „Bringt uns der Krieg dem Sozialismus näher?“ Der deutsche Krieg, Politische Flugschriften, H. 54, 1915.

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und damit die Wirtschaftswissenschaft auf eine andere Grundlage stellen wollten, Rudolf Stammler und Rudolf Stolzmann, Ersterer ist anscheinend mehr durch Marx beeinflußt, aber gleich- zeitig hat er doch seiner Lehre durch Hereinziehung der Rechts- ordnung originalere Züge verliehen. Die Rechtsordnung spielt nun bei fast allen heutigen Methodologen zur Bestimmung des Sozialen die entscheidende Rolle und deswegen können wir die daran anknüpfenden Anschauungen der sozialen Betrachtungsweise als juristisch- soziologische Richtungen bezeichnen. Von Stolzmanns Auffassung werden wir unten bei Besprechung des Objekts der öko- nomischen Wissenschaft (Kap. II, 3) ausführlieh zu reden haben. Den größten Einfluß auf die Entwicklung der juristisch - soziologischen Richtung hat Rudolf Stammler gehabt, der in seinem Buche: Recht und Wirtschaft nach der materialistischen Ge- schichtsauffassung, 1896, 2. Aufl. 1906, 3. Aufl. 1913, die Un- zulänglichkeit der bisherigen ökonomischen Theorie in vielen Punkten kritisierte und die modernen Verbesserungsbestrebungen in die ju- ristisch-soziologische Bahn, Heranziehung der Rechtsordnung für die Abgrenzung des Gegenstandes der „Sozialwirtschaftslehre“ zu bringen versuchte. Er hat keine neue wirtschaftliche Theorie auf der Grund- lage seiner Anschauungen aufgestellt, aber er hat zweifellos alle die- jenigen beeinflußt, welche neuerdings den „sozialen“ Charakter der Wirtschaftswissenschaft schärfer betonen.

Nach Stammler wären als wirtschaftliche Erscheinungen über- haupt nur die anzusehen, die unter dem Einfluß von der Gesell- schaft gegebener Regeln, also in letzter Linie der Rechts- ordnung erfolgen. Er grenzt das wirtschaftliche Handeln dadurch von jedem anderen menschlichen Handeln ab, daß etwas Außerwirt- schaftliches, die gesellschaftliche, rechtliche Ordnung, nach der das Handeln erfolgt, zum Unterscheidungsmerkmal gemacht wird. Die Be- gründung dafür versucht er damit zu geben, daß selbst für die Erklärung der Privatwirtschaft, vor allem aber für diedertauschwirtschaft- lichen Erscheinungen, gewisse „soziale“ Voraussetzungen, der Staat, die Gesellschaft, besonders aber das Privateigentum, gemacht werden müßten, ohne die es den Tauschverkehr und das ganze heutige Wirtschaftsleben nicht gäbe. „Eine kritische Be- sinnung auf die Eigentümlichkeit der sozialen Betrachtung“, sagt Stammler in seinem Artikel: Materialistische Geschichts- auffassung im Handwörterbuch der Staatswisssenschaften, „lehrt, daß sie eine solche von äußerlich geregeltem Zusammenleben von Menschen ist. Der Grund ist der, daß nur bei der Betrachtung des Zusammenlebens als eines äußerlich geregelten wir einen selbständigen Gegenstand wissenschaftlicher Erwägung erhalten. In allen anderen Weisen der Betrachtung menschlichen Zusammenseins und Einwirkens aufeinander haben wir immer nur die Grundsätze der Natur- wissenschaft anzuwenden. () Erst durch die Richtung der Ge- danken auf ein äußerlich geregeltes Zusammenwirken tritt neben die Wissenschaft von der den Menschen umgebenden

PA

20 Robert Liefmann,

Natur, in die er selbst als Erkenntnisobjekt sich einfügt, eine mög- liche Wissenschaft von ‚der Gesellschaft‘, als einem neuen eigenen Gegenstande.“

„Ueberall sonst, beispielsweise bei der psychologischen Erwägung der Einwirkung von Menschen auf andere, haben wir den Menschen als Objekt der Betrachtung. Jetzt tritt er ganz zurück; nicht mehr die Menschen sind es, die erörtert werden, sondern die unter ihnen bestehenden Beziehungen, in denen das Zusammen- wirken sich vollzieht. Indem in aller uns bekannter Geschichte die Konstituierung dieser Beziehungen maßgeblich nur durch rechtliche Normen und nicht durch andere äußere Regeln geschieht, so werden zum Gegenstand der spezifisch sozialen Betrachtung die Rechts- verhältnisse. Nur durch sie besteht der Begriff der ökonomischen Phänomene als einer sozialen Vorstellung!“

Also nur des Gegensatzes von Naturwissenschaft und Kultur- oder Sozialwissenschaft wegen will Stammler die ökonomischen Phänomene nur unter dem Einfluß der Rechtsordnung betrachten. Nur dann seien sie „eine soziale Vorstellung“, sonst müsse man auf die „Betrachtung menschlichen Zusammenwirkens die Grund- sätze der Naturwissenschaft anwenden“. Ich glaube, daß man besser tut, sich nicht darüber den Kopf zu zerbrechen, ob das richtig ist, ob die ökonomische Wissenschaft, wenn man nicht das Moment der rechtlichen Regelung heranzieht, eine Naturwissenschaft wäre, ob überhaupt dieser Gegensatz von Natur- und Sozialwissenschaft gerade den wirtschaftlichen Erscheinungen gegenüber ein scharfer ist. Es ist unter allen Umständen verkehrt, das Erkenntnisobjekt einer Wissenschaft sich durch solche allgemeine philosophische Abgren- zungen, also von der Philosophie her, statt durch die Erfahrung bestimmen zu lassen. Auch Stammler muß zugeben, daß es wirt- schaftliche Phänomene auch ohne die rechtliche Regelung gibt, aber seiner Sozialwissenschaft zuliebe!) sollen sie Gegenstand wissenschaft- licher Betrachtung nur unter jener Bedingung sein. Gegenstand welcher Wissenschaft dann die anderen wirtschaftlichen Erscheinungen sind, wird nicht gesagt. Wir haben in dem früheren Aufsatz gezeigt, daß eine klare Abgrenzung des Wirtschaftlichen auch ohne jene Verquickung mit der Rechtsordnung denkbar ist, und daß sie es er- möglicht, die tauschwirtschaftlichen Erscheinungen, vor allem die Preis- und Einkommensbildung sehr viel „sozialer“ d.h. in ihrer all- seitigen, aber wirtschaftlichen, nicht gesellschaftlichen und recht- lichen Bedingtheit darzustellen als das der bisherigen Theorie, auch der von Stamnler beeinflußten, z. B. Stolzmanns oder Diehls, möglich war.

Es geht aus den zitierten Sätzen Stammlers klar hervor, daß seine Heranziehung der Rechtsordnung zur Bestimmung des Inhalts der Wirtschaftswissenschaft nur eine Verlegenheitsmaßregel ist, weil es nach seiner Meinung anders nicht möglich sei, „bei der Betrach-

1) Siehe auch Recht und Wirtschaft, 2. Aufl., besonders S. 144 u. 151.

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 21

tung des Zusammenwirkens der Menschen einen selbständigen Gegen- stand wissenschaftlicher Erkenntnis zu erhalten“. Er sieht nicht, daß er durch die Unterstellung alles Wirtschaftlichen unter einen rechtlichen Gesichtspunkt den Charakter der Nationalökonomie als selbständiger Wissenschaft gerade beseitigt. Wenn die Wirtschafts- wissenschaft auch eine Sozialwissenschaft ist, so gibt es doch zweifel- los Sozialwissenschaften ohne die Beziehung zur und ohne Bestimmung durch die rechtliche Ordnung, und es ist gar nicht einzusehen, weshalb nun gerade die Wirtschaftswissenschaft ihren Inhalt durch die Rechts- wissenschaft bestimmt erhalten soll, ganz abgesehen von dem logischen Kuriosum, das dadurch geschaffen wird. Vom Standpunkt des Juristen ist ja Stammlers Vorgehen erklärlich und bewundernswert konsequent. Er erkannte, daß mit der überlieferten technisch-materia- listischen Auffassung der Wirtschaft nichts anzufangen war, weil sie zu naturwissenschaftlich war. Aber wie alle Nationalökonomen seit 100 Jahren nahm er sie als gegeben hin, kam gar nicht auf den Ge- danken, ob man nicht unter Wirtschaften auch etwas ganz anderes verstehen könne, was weniger naturwissenschaftlichen Charakter hat und besser das wirtschaftliche Zusammenwirken der Menschen er- kennen läßt. Als Jurist war es für ihn das Nächstliegende, das soziale Moment, das er in dem „naturwissenschaftlichen“ Begriff der Wirtschaft vermißte, in der Rechtsordnung zu finden, und so pfropfte er sie einfach auf den überlieferten Begriff der Wirt- schaft auf, um sein „soziales“ Objekt zu konstruieren. Er, der aus- zog, um den Drachen der „materialistischen Geschichtsauffassung“ zu töten, ist in den Klauen einer viel gefährlicheren „materia- listischen Wirtschaftsauffassung* hängen geblieben. Sie ist viel gefährlicher, weil das, womit der Sozialismus politisch wirkt, nicht so sehr seine Geschichtsauffassung als seine auf der technisch- materialistischen Auffassung beruhende Wirtschaftstheorie, Mehr- wertlehre, Ausbeutungstheorie usw. ist.

Wenn man dem Juristen, der jenen Gedanken zuerst gehabt hat, den darin liegenden Irrtum verzeihen kann, so ist es doch ein Beweis für den Tiefstand der ökonomischen Theorie, daß er auch von Nationalökonomen übernommen wird, die doch viel eher Veranlassung hätten, die Richtigkeit der Stammlerschen Voraussetzungen zu prüfen. Sie müßten doch erkennen, daß zahllose wirtschaftliche Probleme, nicht nur privatwirtschaftliche, sondern auch z.B. weltwirtschaftliche, unabhängig von der Rechtsordnung sind. Glaubt man etwa, daß man zu einer besseren Theorie des Preises oder der Kosten kommt, als sie heute zu verzeichnen sind, wenn man die Untersuchung auch noch mit dem Moment der rechtlichen Regelung belastet? Im Gegen- teil, daß manche Preise staatlich vorgeschrieben sind, dürfte nichts zur Förderung der allgemeinen Preistheorie beitragen. Die Wirt- schaftswissenschaft hat nun einmal die Aufgabe, die Preisbildung usw. aus wirtschaftlichen Gründen zu erklären, und daran ‚kann nichts dadurch geändert werden, daß man sie zu irgend- welchen Zwecken als Sozialwissenschaft bezeichnet. Ich erinnere

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auch an die Kartelle, die sich ganz ohne rechtliche Regelung aus wirtschaftlichen Gründen entwickelt haben. Denn die freie Konkurrenz ist kein Rechtsprinzip, wie sie so vielfach aufgefaßt wird dann gäbe es eben keine Kartelle sondern eine wirt- schaftliche Erscheinung. Wer Konkurrenz und Monopol nur als Rechtsprinzipien auffaßt, dürfte in der Wirtschaftstheorie nur Tax- preise und Verwaltungsmonopole erörtern.

Es ist eine gewaltige Verkennung der wirtschaftlichen Er- scheinungen, als solche nur diejenigen anzusehen, die unter von der Rechtsordnung gegebenen Regeln erfolgen. Das bedeutet doch nichts anderes, als daß der Staat, die Rechtsordnung den ganzen Tauschverkehr organisiert, weshalb ihn die Anhänger Stammlers, Diehl, Stolzmann usw. in der Tat als ein „einheit- liches soziales Zweckgebilde“ ansehen. Dabei aber ist doch bekannt und es zeigt die einfachste Beobachtung, daß der Tauschverkehr im großen und ganzen sich selbst überlassen ist, daß kein Mensch ihn organisiert. Und es ist auch schon oft gelegentlich hervor- gehoben, daß das private Gewinnstreben es ist, welches den Tauschverkehr organisiert. Dies im einzelnen und systematisch nachzuweisen, den ganzen tauschwirtschaftlichen Mechanismus aus dem privaten Gewinnstreben zu erklären, ist Aufgabe der Wirtschafts- theorie, und man wird einsehen, wie fundamental diejenigen Theorien von vornherein ihren Gegenstand und ihre Aufgabe verkennen, die erklären, die wirtschaftlichen Erscheinungen nur unter dem Einfluß der rechtlichen Regelung betrachten zu wollen.

Auch müßte man die Frage aufwerfen, was denn in einer solchen durch die rechtliche Regelung bestimmten Wirtschaftswissenschaft Erörterungen über den Wert, das Kapital, den Preis usw. sollen. Ja, auch das Einkommen, Kredit, Monopol usw., kurz alle ökonomischen Begriffe müßten dann auch als Rechtsbegriffe aufgefaßt werden. Die Beobachtung allein aber zeigt schon, daß, wenn beide Wissenschaften dasselbe Erfahrungsobjekt und dieselben Begriffe haben, sie regel- mäßig im Rechtssinn und im wirtschaftlichen Sinn etwas durchaus Verschiedenes bedeuten. Das ist schon ein äußeres Zeichen für die an sich selbstverständliche Tatsache, daß das Objekt der National- ökonomie nicht von der Rechtswissenschaft her und durch die Beziehung zur rechtlichen Regelung bestimmt werden kann.

Daher ist es auch charakteristisch, daß die wenigen National- ökonomen, die stark von der Stammlerschen Lehre beeinflußt worden sind, vor allem Diehl, sie immer nur am Anfang ihrer Ausführungen vertreten, wenn es gilt, ganz allgemein den Inhalt der Wirtschafts- wissenschaft prinzipiell abzugrenzen. Wenn sie dann aber sich positiv mit ökonomischer Theorie beschäftigen, erörtern sie ganz ebenso wie alle anderen ökonomischen Theoretiker den wirtschaft- lichen Wert, das Kapital, den Preis, ohne daß von der Rechts- ordnung noch die Rede ist. Der einzige Unterschied ist höchstens, daß sie sich ihre Aufgabe bequem machen, indem sie nicht mehr das Bestreben haben, den Preis und die Einkommensbildung auf die

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subjektiven Bedarfsempfindungen der Menschen zurückzuführen, sondern sie begnügen sich mit einer unklaren Betonung des „sozialen“ Charakters dieser wirtschaftlichen Erscheinungen. Ihre Wirtschafts- theorie hört also da auf, wo die eigentlichsten schwierigsten Probleme für uns erst anfangen. Und das Wort „sozial“ wird bei diesen Nationalökonomen überall da verwendet, wo die übliche materia- listische Theorie ihnen nicht weiterhilft.

Ein Hauptvertreter der Stammlerschen Auffassung von der Not- wendigkeit einer sozialen Betrachtungsweise ist unter den National- ökonomen C. Diehl, der seinen Standpunkt verschiedentlich und besonders in seinem Aufsatze: Privatwirtschaftslehre, Volks- wirtschaftslehre, Weltwirtschaftslehre in diesen Jahr- büchern, III. Folge, Bd. 46, S. 441ff. zum Ausdruck gebracht hat. Er wirft die Frage auf, ob es „wirklich die erste Aufgabe sei, die man zu erfüllen hat, wenn man die Erkenntnis der Sozialwirtschaft vermitteln will, die Einzelwirtschaft und nicht die Gesamtwirtschaft (!) zu betrachten“. „Wir dürfen doch nicht vergessen, daß jede einzelne Wirtschaft, jeder einzelne Betrieb, jedes einzelne Wirtschaftssubjekt gerade für die sozialwirtschaftliche Betrachtung immer nur Glied eines großen Ganzen ist und nur dadurch, daß der einzelne Betrieb im Zusammenhang mit einer gesamten Organisation steht, für uns wissenschaftliches Interesse haben kann. Die Arbeit, die in einem einzelnen Betrieb geleistet wird, ist für uns nur Teil einer großen sozialen Arbeitsteilung, und ehe ich nicht das Verständnis für die Bedeutung der Arbeit und der Arbeitsteilung im ganzen volkswirt- schaftlichen Organismus gewonnen habe, kann ich unmöglich die Be- deutung dieser Arbeitsteilung innerhalb eines Betriebes würdigen. Das ‚Kapital‘ im Besitz und Betrieb eines Wirtschaftssubjekts und eines einzelnen Betriebes gewinnt für die sozialwirtschaftliche Be- trachtung erst Bedeutung, wenn man es betrachtet als Teil des ganzen sozialen Wirtschaftsprozesses. Erst muß die Bedeutung, die über- haupt das Kapital innerhalb der ganzen sozialen Wirtschaft (!) spielt, festgestellt werden, ehe wir das Einzelkapital in einem einzelnen Be- triebe betrachten.“ „Wir können diese Privatwirtschaften nur richtig für die sozialwirtschaftliche Betrachtung erfassen, wenn wir sie als dienende Glieder der Gesamtheit, als Funktionäre wichtiger sozialer Dienste auffassen. Man gelangt sonst notwendig zu atomistisch- individualistischer Auffassung des sozialen Lebens.“ „Die ganze sozial- wirtschaftliche Auffassung hat davon auszugehen, daß die Einzel- wirtschaft als solche überhaupt keine Bedeutung hat(!), sondern daß sie für den Sozialökonomen erst Bedeutung gewinnt durch den Zu- sammenschluß und durch den Zusammenhang mit den anderen Einzel- wirtschaften. Nur wenn wir diese Gemeinschaftsbeziehungen beachten und die sozialrechtliche Ordnung, welche die Einzelnen zusammen- schließen, kommen wir zu einer richtigen Einsicht über die Be- deutung der einzelnen Privatwirtschaften.“ j

Die Vertreter dieser sozialen Betrachtungsweise haben niemals erkannt, daß, wenn sie alle diese sozialen Schlagworte einmal de-

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finieren und auf ihrer Grundlage ein theoretisches System auf- stellen wollten, sie doch immer wieder auf die Einzelwirtschaft zurückgreifen müßten. Das Verhalten jedes Einzelnen zu den anderen Wirtschaftssubjekten, das ist ja eben der Tauschverkehr, die „soziale Wirtschaft“. Der Fehler der sozialen Betrachtungsweise ist immer, daß man glaubt, es würde durch die tauschwirtschaftlichen Beziehungen ein neuer Organismus geschaffen, der selbst eine Wirtschaft, „Ge- samtwirtschaft*, oder doch eine Art von Wirtschaft sei. Für die ökonomische Theorie gibt es aber für die Wirtschaftspolitik mag das anders sein keine „Gesamtwirtschaft“, kein „großes soziales Ganzes, von dem der Einzelne nur ein dienendes Glied ist“, es gibt keine „soziale Wirtschaft“ und keinen „sozialen Wirtschaftsprozeß“, sondern es gibt nur Einzelwirtschaften und deren Beziehungen. Wie diese Einzelwirtschaften auf Grund des Geldtausches tätig werden, das muß man allerdings zuerst erkennen, hat aber damit zugleich auch schon die Grundlage des „sozialen Wirtschaftsprozesses“ erkannt. Wie die in den Tauschverkehr verflochtenen Einzelwirtschaften handeln, das und nichts anderes ist der sogenannte „soziale“ Wirtschafts- prozeß, und die allgemeinsten Grundlagen dieses Handelns, die für alle so sehr verschiedenen Arten von Einzelwirtschaften identisch sind, die gilt es zuerst herauszufinden. Gerade hier aber haben die bis- herigen Theorien versagt, indem sie das Wesen des Wirtschaftlichen vollkommen verkannt haben, und sie hätten sich noch weiter von der richtigen Erkenntnis entfernt, wenn diese „soziale“ Betrachtungs- weise größere Ausbreitung erlangt hätte Finzelwirtschaft und Sozialwirtschaft stehen also zueinander in keinem Gegensatz, sie lassen sich überhaupt nicht trennen, das Handeln der Einzelwirt- schaften das ist die „Sozialwirtschaft“. Eine besondere Sozial- wirtschaft neben der Einzelwirtschaft als besonderes Objekt ökonomischer Betrachtung gibt es nicht. Es beruht dies, wie wir noch sehen werden, auf Verwechslung der Nationalökonomie mit der Soziologie, von wirtschaftlich und gesellschaftlich, die möglich war, weil man ja überhaupt über das eigentliche Wesen des Wirtschaftlichen keine richtige Vorstellung hatte. Bloß des- wegen, um es überhaupt von dem großen Bereich des Technischen, Materiellen abgrenzen zu können, hat ja Stammler den Gedanken der äußeren Regelung in die alte materialistische, Vorstellung des Wirtschaftlichen hineingetragen.

Es ist daher auch durchaus unzutreffend, wenn Diehl gegen Harms auch ich habe übrigens den Ausdruck schon öfters gebraucht es beanstandet, daß dieser „die Privatwirtschaft als die Zelle der ganzen Volkswirtschaft bezeichnet“. Gerade im Gegenteil, die Einzel- wirtschaften in der Volkswirtschaft sind noch weit mehr selbständige Einheiten als die einzelnen Zellen beispielsweise im menschlichen Orga- nismus. Denn während diese kein eigenes Leben haben, wenigstens kein geistiges, und nur der ganze Organismus lebt und Zwecke ver- folgt, sind dort die einzelnen Zellen, die Einzelwirtschaften, das allein Lebendige, und in ihren Betätigungen, in der Verfolgung

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ihrer Zwecke besteht überhaupt nur der sogenannte volkswirt- schaftliche Organismus. Dieser ist aber kein Organismus wie die Einzelwirtschaft mit eigenem Willen und eigenen Zielen, die Volks- wirtschaft ist keine Wirtschaft, und daher ist es besser und zu- treffender, wo es gilt, diese leider immer noch verbreitete falsche Auf- fassung zu vermeiden, vom tauschwirtschaftlichen Mecha- nismus zu sprechen. Die Einzelwirtschaften schaffen ihn un- bewußt durch ihre Betätigung, die Verfolgung ihrer Zwecke, durch ihr Ertragstreben, aus dem heraus er daher auch zu erklären ist; daher kann man von der Betrachtung der Einzelwirtschaft nicht abst rahieren, sonderm muß vielmehr von ihr ausgehen.

Auch die „Arbeitsteilung im einzelnen Betriebe“, sofern sie nicht nur eine technische Erscheinung ist, ist dasselbe wie die „Arbeits- teilung im ganzen volkswirtschaftlichen Organismus“, beide beruhen auf dm Tausch. Man erkennt aber weder ihr Gemeinsames noch ihre Verschiedenheiten, d. h. die Zusammenfassung verschiedener Arbeitskräfte in einer fremden Wirtschaft, einer Unternehmung, wenn man den ganzen tauschwirtschaftlichen Mechanismus, die „Volkswirtschaft“, so falsch, als eine „Gesamtwirtschaft“ auffaßt, wie Diehl dies tut.

Nicht „zur Einsicht über die Bedeutung der einzelnen Privat- wirtschaften zu kommen“, ist unser Ziel, die Aufgabe bleibt, die so mannigfachen Beziehungen der Einzelwirtschaften zu erfassen, wo- durch man auch von selbst auf deren Verschiedenheiten kommt, die eben in der Verschiedenheit ihrer tauschwirtschaftlichen Beziehungen begründet sind. Es ist aber ein fundamentaler Fehler der ganzen sozialen Betrachtungsweise, zu glauben, daß es sich dabei um „Ge- meinschaftsbeziehungen“ handle, zu denen „die sozialrecht- liche Ordnung die Einzelnen zusammenschließt“. Keine „Gemein- schaftsbeziehungen“ oder, etwas weniger unklar ausgedrückt, keine gleichgerichteten Zwecke, sondern im Gegenteil gegen- sätzliche, widerstreitende Beziehungen der Einzelnen führen zum Tauschverkehr, und diese werden daher auch nicht durch die sozialrechtliche Ordnung, insbesondere das Privateigentum, zu einer wirtschaftlichen Einheit, einer „Gesamtwirtschaft zusammenge- schlossen, sondern im Gegenteil, dieses grenzt sie voneinander ab, es sichert die Geltendmachung widerstreitender Interessen. Die Hunderte von Wirtschaftspersonen, die in der ganzen Welt für meinen Bedarf tätig werden, treten mit mir nicht in „Gemeinschafts- beziehungen“, sondern sie treten mit mirin Tauschverkehr, der nichts weniger als Gemeinschaftsbeziehungen, klarer ausgedrückt gemeinsame Zwecke, sondern im Gegenteil entgegengesetzte Interessen darstellt.

Jetzt wird man vielleicht allmählich einsehen, wie sehr die Ver- treter der sozialen Betrachtungsweise das Wesen des ganzen Tausch- verkehrs und die Bedeutung der Rechtsordnung für ihn verkennen. Es ist ein ungeheurer Irrtum, zu glauben, daß die Rechtsordnung den ganzen Tauschverkehr organisiere. Sie schafft niemals wirt-

26 Robert Liefmann,

schaftliche Beziehungen, sondern sie gibt nur manchen von ihnen größere Sicherheit. Sie ist aber für die wirtschaftliche Betrachtung etwas durchaus Sekundäres, das, wie gesagt, den wirtschaftlichen Erscheinungen erst nachfolgt. Diese entwickeln sich ohne ihr Zutun und werden erst nachträglich und längst nicht alle von ihr geregelt. Jedenfalls ist es ein fundamentaler logischer Fehler, ihr Kriterium in der rechtlichen Regelung finden zu wollen.

Weder ist die rechtliche Ordnung selbst eine Wirtschaft, noch ist sie die Ursache der wirtschaftlichen Vorgänge, und daher können diese auch niemals durch das Moment der rechtlichen Regelung be- stimmt werden. Diese schafft kein Erkenntnisobjekt der Wirtschafts- wissenschaft. Dies wäre nur möglich, wenn nachgewiesen würde, daß die rechtliche Regelung die wirtschaftlichen Erscheinungen herbei- führt, die zu erklären Hauptaufgabe der ökonomischen Theorie ist. Es genügt nicht, einfach zu behaupten, ohne die rechtliche Regelung und das Privateigentum gäbe es nicht den heutigen Tauschverkehr den gäbe es auch nicht ohne die Technik und ohne die Natur- wissenschaften, und ebensogut könnte man sie zur Abgrenzung der Tauschverkehrsvorgänge verwenden —, sondern man müßte nach- weisen, daß die Haupterscheinungen des Tauschverkehrs, Preis- und Einkommensbildung, in der Weise der rechtlichen Ordnung ihr Ent- stehen verdanken, daß kein Preis und kein Einkommen ohne sie zustande kommen könnte. Daß das nicht zutrifft, wird einfach dadurch gezeigt, daß man die Preis- und die Einkommensbildung sehr wohl allein durch wirtschaftliche Momente, ohne Bezugnahme auf die Rechtsordnung, erklären kann.

Wenn behauptet wird, daß doch das Privateigentum, also eine rechtliche Regelung, Voraussetzung jeden Tausches sei, so ist darauf aufmerksam zu machen, daß wirtschaftlich nur das bloße Inne- haben und nicht seine rechtliche Regelung in Betracht kommt. So gibt es auch einen Tausch mit staaten- und rechtslosen Wilden, und auch mit den Angehörigen eines sozialistischen Staates wäre ein Tauschverkehr denkbar.

Die Besprechung der Anschauungen von Stammler und Diehl mag zur Kennzeichnung der juristisch-soziologischen Richtung ge- nügen. Im folgenden Kapitel haben wir noch auf die Anschauungen von Amonn und Stolzmann einzugehen, die uns allmählich tiefer in den Kern des methodologischen Problems hineinführen.

Allen diesen Auffassungen, wozu noch ähnliche von Oppen- heimer, Spann u. a. gezählt werden könnten, ist also gemeinsam, daß sie die Wirtschaftswissenschaft in enge Beziehung zur Sozio- logie, zur Gesellschaftslehre bringen. Das war notwendig, weil für eine Wissenschaft, die ausschließlich die Tauschverkehrs- vorgänge oder die sozialen Verkehrsbeziehungen betrachten wollte, von dem Inhalt der früheren Wirtschaftstheorie doch gar zu wenig übrigblieb. Vor allem aber, man brauchte diese Beziehung, weil auf Grund der herrschenden technisch-materialistischen Auffassung der Wirtschaft diese von der Technik nicht zu unterscheiden war. Wie

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esv.Schulze-Gävernitz (s. unten Kap. III) mit bemerkenswerter Offenheit, wenn auch nicht ganz mit diesen Worten, ausspricht: Wirtschaft ist Technik, nur Volkswirtschaft ist Wirtschaft. Er versteht unter Volkswirtschaft den Kampf der Menschen mit der Natur, „soweit er mit gesellschaftlichen (!) Mitteln geführt wird“. Für alles das gibt der Begriff sozial und der Gedanke der Sozial- wissenschaft die Grundlage. Es wäre aber an der Zeit, daß die Vertreter der sozialen Betrachtungsweise, wenn sie wirklich die ökonomische Wissenschaft fördern wollen, jene unklaren gesellschaft- lichen und Sozialbegriffe einmal scharf definieren und dann auf ihrer Grundlage aber auch wirkliche „sozialökonomische“ Theorie treiben. Das ist bisher, mit alleiniger Ausnahme von Stolzmann, nie ge- schehen (s. darüber unten Kap. II). Dann würde sich bald heraus- stellen, daß eine solche Theorie vielleicht eine soziologische, jeden- falls aber keine ökonomische ist. Ihre Befürworter tun daher besser, sich Soziologen zu nennen. Es ist gar nicht einzusehen, wes- halb alles, was sie wollen, zur Wirtschaftswissenschaft gehören soll. Jedenfalls aber geht es nicht an, daß Leute, die sich nun einmal auf die soziale Betrachtungsweise festgelegt haben und davon nicht mehr loskommen, meine Theorie, die das Wirtschaftliche ganz überein- siimmend mit der Erfahrung definiert, einfach mit dem Schlagwort „Individualistisch-atomistisch“ ablehnen zu können glauben, ohne selbst imstande zu sein, auf ihrer eigenen Grundlage etwas an ihre Stelle zu setzen.

Kapitel II. Das Objekt der Wirtschaftswissenschaft.

l. Allgemeines über die Objektsbestimmung in der Wirtschafts- wissenschaft.

Wir sind nun der Meinung, daß alles, was wir über den Gegen- satz von individualistischer und sozialer Betrachtungsweise gesagt haben, auf einer verschiedenen Auffassung des Objekts der Wirt- schaftswissenschaft beruht. Nämlich in der Weise, daß die individua- listische Betrachtungsweise nur den Einzelwirtschaften Zwecke zuschreibt, während die sog. soziale Betrachtungsweise darauf hinausläuft, in ihren Sozialbegriffen: Volkswirtschaft, soziale Gesamtwirtschaftu.dgl. Gebilde mit eigenen Zwecken zu sehen. Man ist sich also offenbar über den logischen Charakter der verschiedenen „Betrachtungsweisen“ oder „Gesichtspunkte“ nicht klar geworden, die man in der Nationalökonomie geglaubt hat neben- einander stellen zu können. Wir müssen daher, in möglichster Kürze, auf diese logische bzw. philosophische Frage der Objekts- bestimmung in der Nationalökonomie etwas eingehen. Erst die moderne Logik, besonders unter dem Einfluß von Windelband und Rickert, dann in spezieller Anwendung auf die National- ökonomie vor allem durch Max Weber, ist dazu gelangt, über die Art und Weise, wie sich die Bestimmung des Objekts einer Wissen- schaft vollzieht, Klarheit zu schaffen. Während ich in anderen

28 Robert Liefmann,

Punkten der heute so beliebten Anwendung der Philosophie auf die Nationalökonomie mit Mißtrauen gegenüberstehe, weil ihre Ergebnisse und Anwendungen auf sie nicht so gesichert scheinen, wie es ihre Vertreter gern behaupten, ist in jenem Punkte die moderne Logik zu meines Erachtens unanfechtbaren und abschließenden Resultaten gelangt‘). In möglichster Kürze sei hier das Wichtigste darüber unseren Untersuchungen vorausgeschickt.

Wir betonten oben schon, daß man niemals ein Objekt für eine erst zu schaffende Wissenschaft bestimmen kann, sondern vorhandene Probleme müssen schon in erheblichem Umfange als einheitlich erkannt sein, wenn man daran gehen kann, sie als Objekt einer Wissenschaft scharf begrifflich zusammenzufassen. So geht dem eigentlichen „Erkenntnisobjekt“ der Wissenschaft ein „Er- fahrungsobjekt“ voraus, auf das sich durch Erfahrung gegebene Probleme beziehen, die erst später durch unser Denken als einheit- lich erkannt werden. Dieses Erfahrungsobjekt bilden, um sogleich auf unser Gebiet zu kommen, gewisse Erscheinungen, die der gewöhn- liche Sprachgebrauch von jeher als wirtschaftlich bezeichnet, z. B. Vorgänge des Tauschverkehrs, der Preis- und Einkommens- bildung, des Geldwesens. Sie gelten als wirtschaftliche, ganz gleich- gültig, was später die Wissenschaft als das Einheitliche in ihnen erkennt. Schon das alltägliche Denken knüpft also an die an sich ganz individuellen Erfahrungsobjekte an und indem es sie, wenn auch oft recht ungenau benennt, beginnt es schon, sie zu klassifizieren, aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Erfahrungsobjekts einen übersehbaren Komplex einheitlicher Gedankengebilde mit einer be- grenzten Zahl von Merkmalen herauszuheben. Diese Heraushebung eines „Denkobjekts“, wie Rickert es genannt hat, geschieht zu praktischen Zwecken, vor allem für die Zwecke sprachlicher Ver- ständigung. So hat das praktische Denken den Begriffen Wirtschaft, Preis, Einkommen, Kapital usw. einen mehr oder weniger deutlich bestimmten Inhalt gegeben, der, wenn auch oft recht ungenau, so doch für die praktischen Zwecke mit genügender Deutlichkeit, die Erfahrungsobjekte unzähliger einzelner Menschen zusammenfaßt.

Diese Denkobjekte des Alltags werden dann zum wissenschaft- lichen Denkobjekt oder „Erkenntnisobjekt“, indem sie unter einem einheitlichen, für sie alle gültigen, der wissenschaftlichen Er- kenntnis dienenden Gesichtspunkt zusammengefaßt werden, unter einem Identitätsprinzip, wie es neuere Logiker (Münster- berg) nennen. Dieser Gesichtspunkt, das einheitliche Merkmal, ist

1) Sie hat ausgiebig verwertet A. Amonn in seinem deswegen sehr dankens- werten Buche: Objekt und Grundbegriffe der theoretischen National- ökonomie, 1911. So sehr ich mit seinen logischen Grundlagen und kritischen Er- örterungen übereinstimme den technischen Charakter der bisherigen Nationalökonomie habe ich aber schon längst vor ihm betont so sehr muß ich seine positiven Schluß- folgerungen ablehnen. Denn er gelangt nicht dazu, das Wesen des Wirtschaftlichen anders aufzufassen als bisher, und sucht deshalb als Sozialwirtschaftslehre unter Heranziehung rechtlicher und gesellschaftlicher Voraussetzungen ein engeres Gebiet der „sozialen Verkehrsbeziehungen‘ abzugrenzen.

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an und für sich auch willkürlich gewählt, und daher können aus den- selben Erfahrungsobjekten ganz verschiedene Erkenntnisobjekte ge- wonnen werden, die dann auch Gegenstand verschiedener Wissen- schaften sein können. Aber immer muß das Erkenntnisobjekt ein- heitlich und allgemein bestimmt sein. Der ausgewählte Gesichts- punkt greift zwar nur eine beliebige Seite aus dem Erfahrungs- objekt heraus, isoliert sie, abstrahiert von allen sonstigen Seiten denn auch das wissenschaftliche Denken kann nicht alle die zahl- reichen Seiten eines Erfahrungsobjekts erfassen —, aber diese Merk- male des Erkenntnisobjekts müssen dann auf alle vorgestellten Er- fahrungsobjekte zutreffen. So ist es an sich durchaus möglich, in dem Erfahrungsobjekt: wirtschaftliche Erscheinungen das Identitäts- prinzip: „Sachgüterbeschaffung“, Ueberwindung der Ab- hängigkeit des Menschen von den Gegenständen der äußeren Natur zu sehen und dadurch das Erkenntnisobjekt der Wirtschaftswissen- schaft zu bestimmen. Aber wenn man dieses Erkenntnisobjekt nicht so kritiklos übernommen, sondern es auf Grund besserer Beobachtung schärfer geprüft hätte, hätte man längst finden müssen also ohne alle logischen und methodologischen Studien —, daß es zahllose, zweifellos überall als wirtschaftliche Erscheinungen geltende Vor- gänge gibt, welche mit Sachgüterbeschaffung nichts zu tun haben. Man hätte erkennen müssen, daß sich das Wirtschaften keineswegs nur auf Sachgüter, Gegenstände der äußeren Natur bezieht, sondern in gleicher Weise auf zahllose persönliche Leistungen. Das schließt nun nicht aus, daß trotzdem der Gesichtspunkt: Sachgüterbeschaffung ein Identitätsprinzip darstellt, das Grundlage einer eigenen Wissen- schaft sein könnte, z. B. der materiellen Technik oder Technologie im Gegensatz zur Technik oder Technologie im weiteren Sinne, welche auch nicht auf die Produktion beschränkt ist. Aber es zeigt sich bald und hat sich in der ökonomischen Wissenschaft in erschreckender Weise gezeigt, daß mit diesem Auswahlprinzip Sachgüterbeschaffung die wichtigsten tauschwirtschaftlichen Erscheinungen nicht zu er- klären sind. Denn und damit kommen wir vom Objekt zu der Aufgabe der Wissenschaft aus dem als wesentlich für das wissen- schaftliche Objekt Erkannten sind nun auch die es bildenden Er- scheinungen, die vorgestellten Erscheinungstatsachen kausal und syste- matisch zu erklären. Das vermag die materialistische Auffassung der Wirtschaft nicht, kein einheitliches logisches Identitätssystem umfaßt die Tatsache der Produktion, der Beziehung der Produkte zu den Produktionsmitteln, und gleichzeitig die Geldpreise und Ein- ommen.

Wenn wir als das Identitätsprinzip aller wirtschaftlichen Er- scheinungen Sachgüterbeschaffung erkennen, wären aus dieser Tätig- keit der Sachgüterbeschaffung heraus auch alle wirtschaftlichen Er- scheinungen zu erklären. Das hat man mehr als ein Jahrhundert lang auch versucht, am konsequentesten die Klassiker und neuerdings enge extreme Materialisten, „Quantitätsnational- ökonomen“ wie Clark und Schumpeter, die die wirtschaft-

30 Robert Liefmann,

lichen Probleme in dem Verhältnis sehen, in dem die Güter- quantitäten zueinander stehen. Abgesehen davon ist aber die ganze Entwicklung der Wissenschaft seit bald einem halben Jahr- hundert, seit dem Aufkommen der „subjektiven Wertlehre“, ja genau genommen schon seit Gossen, immer mehr in die Richtung zu einer psychischen, „subjektiven“ Auffassung der Wirtschaft ge- drängt worden. Die ganze „subjektive Wertlehre“ ist von unserem Standpunkt einer konsequenten psychischen Auffassung des Wirt- schaftlichen aus nichts anderes als der erste schüchterne Versuch, in den ziemlich konsequenten objektiv -materialistischen Aufbau der klassischen Lehre, die nur für die Erklärung der tauschwirtschaft- lichen Erscheinungen gänzlich versagte, subjektive, psychische Elemente hineinzutragen. Daß das zu einem völlig unlogischen com- positum mixtum führte, als welches die heutige Grenznutzenlehre sich darstellt, habe ich schon in der verschiedensten Weise gezeigt. Der Fehler war eben der, um es im Sinne der Logik auszudrücken, daß man an dem Identitätsprinzip Sachgüterbeschaffung fest- hielt, in ihm nach wie vor das logisch Einheitliche erblickte, was aus dem Erfahrungsobjekt wirtschaftlicher Erscheinungen ein wissen- schaftliches Erkenntnisobjekt machen sollte. Man führte also die Beobachtung und Analyse wirtschaftlicher Vorgänge nicht weit genug durch, um zu erkennen, daß aus dem Moment Sachgüterbeschaffung niemals die Einheitlichkeit der wirtschaftlichen Erscheinungen ab- geleitet und eine Erklärung der geldwirtschaftlichen Vorgänge, ins- besondere der Preis- und Einkommensbildung, gegeben werden kann.

Für die ökonomische Wissenschaft gilt nun ganz besonders, daß ihr Objekt durch die Erfahrung und deren Sprachgebrauch ge- gegeben ist. Wirtschaftserscheinungen und -vorgänge als Erfahrungs- objekt und als Denkobjekt des täglichen Lebens stehen ziemlich genau fest. Woran man denkt, wenn man von wirtschaftlichen Handlungen, wirtschaftlichen Vorgängen, wirtschaftlichen Einrichtungen spricht, das weiß, ganz im allgemeinen betrachtet, jedermann. Und zwar des- wegen, weil eben jedermann wirtschaftet, weil jedermann in wirt- schaftliche Vorgänge verflochten ist, wirtschaftliche Handlungen für die meisten Menschen den größten Teil, den überwiegenden Inhalt ihres ganzen Lebens umfassen. Bei einem so allgemein vorliegenden Denkobjekt mußte sich ohne Zweifel für einen weiten Kreis von Er- scheinungen allgemeine Uebereinstimmung im Sprachgebrauch ergeben. Das schließt aber nicht aus, daß es daneben zahlreiche Handlungen, Vorgänge und Einrichtungen gibt, über deren wirtschaftlichen Cha- rakter man zweifelhaft sein kann. Denn dem Denkobjekt liegt eben kein scharf bestimmtes Identitätsprinzip zugrunde. Immerhin gilt gerade für die ökonomische Wissenschaft, deren Objekt im täglichen Leben eine so große Rolle spielt, daß dasjenige wissenschaftlich aus- gewählte Identitätsprinzip das richtigste sein wird, welches die Er- scheinungen am besten begreift, die im gewöhnlichen Sprachgebrauch als wirtschaftlich bezeichnet werden. Nichts anderes bedeutet die

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vielfach erhobene Forderung, daß sich die wissenschaftliche Begriffs- bestimmung möglichst eng an den Sprachgebrauch anschließen’ solle. Sie findet darin ihre Begründung, daß ein im alltäglichen Leben eine solche Rolle spielendes Denkobjekt wie die wirtschaftlichen Erscheinungen schon für dessen Bedürfnisse so klassifiziert, in Typen zerlegt und unterschieden wird, daß die wissenschaftliche Betrachtung, wenn sie auch viel systematischer vorgeht, davon nicht völlig abstra- hieren kann.

In dieser Hinsicht versagt, wie leicht zu erkennen ist, die sozio- logische Richtung vollkommen, sie setzt sich offensichtlich mit dem als Inhalt der wirtschaftlichen Erscheinungen im alltäglichen Den- ken Erfaßten in Widerspruch. Denn dazu gehören zweifellos nicht nur die „sozialen Verkehrsbeziehungen“, sondern auch, und dem Wesen der Wirtschaft entsprechend sogar in erster Linie, die Erwägungen des einzelnen Menschen; und man denkt bei allen wirtschaftlichen Erscheinungen nicht in erster Linie an ihre Eingliederung in einen großen sozialen Organismus, der als eine wirtschaftliche Einheit auf- zufassen wäre wenn das geschieht, ist es höchstens die Volks- wirtschaft eines bestimmten Staates, also keine wirtschaftliche, sondern eine rechtlich, staatlich bestimmte Einheit sondern man denkt, mit einem Wort gesagt, in erster Linie privatwirtschaftlich, d.h. man sieht Einzelwirtschaften, die in verschiedener Weise in Ver- kehr miteinander treten und denen verschiedene gemeinsame Einrich- tungen und Veranstaltungen dienen). Von diesem Erfahrungsobjekt und Denkobjekt: den Einzelwirtschaften und wirtschaftlichen Handlungen, Konsumwirtschaften und Erwerbstätigkeiten, den Tauschverkehrsbe- ziehungen zwischen ihnen und ihren gemeinsamen Einrichtungen und Veranstaltnngen sollte man bei der Bestimmung des wissenschaft- lichen Denkobjekts nicht ohne zwingenden Grund abgehen.

Unsere soziologischen Nationalökonomen sind aber, wie wir unten an zahlreichen Beispielen zeigen werden, geradezu blind gegen alle Vorgänge, bei denen einzelne Wirtschaften und ihre Handlungen in Betracht kommen oder isoliert werden können, suchen dabei immer deren soziale Bedingtheit hervorzuheben und sie nur als Teiler- scheinungen eines äußerst unklar bestimmten „sozialen Gesamtkörpers“ oder als Ausfluß ebenso unklarer „gesellschaftlicher Zwecke“ hinzu- stellen. Statt zu isolieren und zu abstrahieren, wie es Aufgabe der Wissenschaft wäre, belastet die soziale Betrachtungsweise die Er- kenntnis der wirtschaftlichen Erscheinungen gleich von vornherein mit einer Anzahl rechtlicher und gesellschaftlicher Voraussetzungen, die die Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft dokumentieren sollen, die aber gar nicht nötig wären, wenn man das Wesen der Wirtschaft richtiger erkannt hätte.

Wir glauben nun, daß man nicht ohne Not das seit einem Jahr- hundert erörterte Problem, wie die tauschwirtschaftlichen Erscheinungen

1) Deshalb ist es so außerordentlich unwirklich und künstlich konstruiert, wenn

v. Schulze-Gävernitz, Stolzmann u. a. immer von „gesellschaftlichen Zwecken“ der wirt- schaftlichen Tätigkeit sprechen; siehe darüber unten.

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auf die Bedarfsempfindungen der einzelnen Menschen zurückzuführen und aus ihnen zu erklären sind, über Bord werfen und durch Ver- senkung in das trübe Meer der Soziologie oder Sozialwissenschaft hoffnungslos ertränken sollte. Uns scheint vielmehr, daß dem wirt- schaftlichen Erfahrungsobjekt des gewöhnlichen Lebens und seinem Sprachgebrauch, der auch Vorgänge innerhalb der einzelnen Wirt- schaft als wirtschaftliche bezeichnet und von wirtschaften nicht ausschließlich in Verbindung mit dem Tauschverkehr spricht, in der Tat etwas Einheitliches zugrunde liegt. Wir glauben daher, daß man nicht zu dem Verlegenheitsmittel der soziologischen Richtungen zu greifen braucht, das Objekt der „Sozialökonomik“ anders als durch das Oekonomische, nämlich durch einen ad hoc konstruierten Begriff der sozialen Regelung zu bestimmen. Und erst recht nicht ist es nötig, zu diesem Verlegenheitsmittel noch den logischen Fehler hin- zuzufügen, das Objekt der Volkswirtschaftslehre von dem allgemeinen Begriff der Sozialwissenschaft aus bestimmen zu wollen.

Jenes Einheitliche in allen wirtschaftlichen Erscheinungen und damit die Lösung der hergebrachten wirtschaftlichen Probleme glaube ich nun in einer neuen Auffassung des Wirtschaftlichen ge- funden zu haben, die ich im Gegensatz zu der auch von den sozio- logischen Richtungen immer festgehaltenen technisch-materialistischen die psychische nenne Denn wir erblicken das Einheitliche, was den wirtschaftlichen Handlungen und Beziehungen der Menschen und den Einrichtungen und Veranstaltungen, die sie dafür geschaffen haben, zugrunde liegt, also das Identitätsprinzip der ökonomischen Wissenschaft nicht in der Sachgüterbeschaffung, sondern in einer besonderen Art von Erwägungen, die auf einem Gegenüber- stellen und Vergleichen von Nutzen und Kosten, rein psychisch aufgefaßt, mit dem Ziel eines möglichst großen Nutzenüberschusses, Genusses, beruhen. Hier genügt diese Feststellung, im übrigen verweise ich auf meine beiden früheren Aufsätze in dieser Zeitschrift. Jedenfalls sind Ausgangspunkt aller wirtschaft- lichen Vorgänge und darum auch aller wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung die wirtschaftlichen Erwägungen. Wirtschaft- liche Handlungen sind also die, die von solchen Erwägungen geleitet sind, wirtschaftliche Beziehungen die, die zwischen den Menschen auf Grund solcher Erwägungen und Handlungen entstehen, wirtschaft- liche Einrichtungen und Veranstaltungen die, welche die Menschen auf Grund ihrer wirtschaftlichen Erwägungen und für ihre wirt- schaftlichen Handlungen und Beziehungen geschaffen haben.

Es könnte sonderbar erscheinen, daß, wenn etwas Psychisches, eine besondere Art von Erwägungen das Wesen der Wirtschaft und den Inhalt der Wirtschaftslehre bildet, wir die Wirtschafts- wissenschaft nicht als Lehre von den wirtschaftlichen Erwägungen in dem oben angedeuteten Sinne bezeichnen, sondern als Lehre von den wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen und den Ein- richtungen und Veranstaltungen, aie dafür geschaffen werden. Aber

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wir gewinnen ja die wirtschaftlichen Probleme und damit den Inhalt der Wirtschaftswissenschaft aus der Erfahrung, und da wissen wir, daß nicht oder doch nicht in erster Linie die wirtschaftlichen Erwägungen uns als Problem entgegentreten, sondern, wenn wir nach dem urteilen, was seit mehr als einem Jahrhundert am meisten Gegenstand des Streites in der Wirtschaftswissenschaft gewesen ist, vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen, kurz gesagt, die Erscheinungen des Tauschverkehrs. Diese Beziehungen, z. B. die Preis- und Einkommensbildung, und die Einrichtungen dafür, z. B. das Geld, stehen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Sie müssen vor allem geklärt sein, wenn man andere speziellere Erscheinungen des Wirtschaftslebens untersuchen will. Hier lag eben der Fehler der bisherigen Entwicklung der Wirtschafts- wissenschaft, daß die allgemeinsten Erscheinungen des Tauschver- kehrs noch ungenügend erklärt und in ihrem Funktionieren erkannt waren und daß man daher auch bei der Betrachtung speziellerer Vor- gänge oft zu falschen Ergebnissen kam, daß es wenigstens nicht gelang, was die letzte Aufgabe jeder Wissenschaft ist, die wirtschaft- lichen Vorgänge systematisch von den allgemeinsten Erscheinungen aus aufbauend zur Darstellung zu bringen.

Wir könnten daher die Begriffsbestimmung der Wirtschafts- wissenschaft sehr wohl in der Weise vornehmen, daß wir einfach sagen, es sei die Lehre von den wirtschaftlichen Be- ziehungen der Menschen und den Einrichtungen und Veranstaltungen, die sie sich dafür geschaffen haben. Die Bezugnahme auf die wirtschaftlichen Handlungen würde dann in der Begriffsbestimmung ebenfalls fehlen, ebenso wie die auf die wirtschaftlichen Erwägungen. In der Tat sind die Hauptprobleme, die uns entgegentreten, die Vorgänge des Tauschverkehrs, also die wirtschaftlichen Beziehungen. Deshalb sprechen wir im folgenden immer davon,- daß den Mechanismus des Tauschverkehrs zu erklären, die Hauptaufgabe der ökonomischen Wissenschaft ist. Erst durch den Tauschverkehr entwickelt sich eine solche Mannig- faltigkeit der wirtschaftlichen Handlungen, Beziehungen und Ein- richtungen, daß sie zu ordnen, das Typische in ihnen herauszufinden und sie dadurch dem menschlichen Geist begreifbar zu machen, Auf- gabe einer besonderen Wissenschaft wird.

Die Probleme der Wirtschaftswissenschaft knüpfen sich also, wie allgemein zugegeben wird, vor allem an die wirtschaftlichen Be- ziehungen und Einrichtungen, also an die Erscheinungen des Tausch- verkehrs. Wenn wir trotzdem auch die wirtschaftlichen Hand- lungen in die Begriffsbestimmung mitaufgenommen haben, so geschah das deswegen, um die Einheit der gesamten Wirtschafts- wissenhaft zu betonen. Auf der Grundlage unserer Definition des Wirtschaftlichen bilden alle Erörterungen, die sich mit dem dadurch abgegrenzten Gegenstand beschäftigen, eine einheitliche Wissen- schaft. Deshalb definieren wir weder, wie die bisherige Theorie, sei es die Wirtschaft oder gar die Volkswirtschaft oder das wirt-

Jahrb. f. Nationalök. u. Stat. Bd. 106 (Dritte Folge Bd. 51). 3

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schaftliche Gut oder die wirtschaftliche Handlung, sondern wir definieren das Wirtschaftliche, das Adjektivum, das sich mit den verschiedensten Substantiven verbinden kann, und als Ausgangs- punkt für unsere Betrachtung nehmen wir dann die Verknüpfung mit dem allgemeinsten Substantivum, das möglich war, d. h. gehen aus von den wirtschaftlichen Erwägungen.

Es wäre daher nicht im mindesten falsch, wenn wir auch die Lehre von den wirtschaftlichen Erwägungen ebenfalls mit in unsere Begriffsbestimmung der Wirtschaftswissenschaft hineinnähmen. In der Tat muß sich jedes theoretische System auch mit psychischen Erörterungen, der Untersuchung der wirtschaftlichen Erwägungen beschäftigen. Aber wir haben nur deswegen darauf näher einzugehen, weil diese allgemeinen Erwägungen, die der einzelne wirschaftende Mensch anstellt, noch keineswegs klargestellt sind. Wir können deswegen doch betonen, daß sie eigentlich in die Psychologie ge- hörten, und daß die Hauptprobleme der Wirtschaftswissenschaft nicht in der Frage liegen: wie handelt der einzelne wirtschaftende Mensch ? sondern: wie sind die so unendlich verschiedenartigen Beziehungen zwischen den wirtschaftenden Menschen, die der heutige Tausch- verkehr aufweist, zu erklären ?

Nur daran müssen wir festhalten, daß das Einheitliche in dem Erfahrungsobjekt, das der ökonomischen Wissenschaft vorliegt, und damit das Identitätsprinzip, das ihr Erkenntnisobjekt bestimmt, in diesem psychischen Moment, einer besonderen Art von Erwägungen, die an das Ziel Bedarfsbefriedigung, Genuß anknüpfen, zu finden ist. Wir dürfen also nicht an dem äußerlichen, technischen Charakter der Handlungen, dem Produzieren, hängen bleiben, wie die bisherige Theorie das tat, sondern müssen in die Psyche der wirtschaftenden Menschen zurückgehen. Das ist auch von der neueren Theorie, die ja mit der subjektiven Wertlehre schon auf dem Wege zu meiner Auffassung war, immer anerkannt worden, indem man als das Ziel der Wirtschaft Bedarfsbefriedigung bezeichnet hat. Aber wegen des überlieferten Aufbaues der ökonomischen Theorie auf technisch-materialistischer Grundlage ist an dieser nur im Eingang der Lehrbücher betonten Beobachtung nie festgehalten worden.

Wir gewinnen dagegen mit unserer psychischen Auffassung des Wirtschaftlichen die klare Abgrenzung von der Technik, die allen bisherigen Theorien fehlte, was die neueren Untersuchungen dazu ver- anlaßte, überhaupt nicht im Wirtschaftlichen, sondern in dersozialen Regelung das Identitätsprinzip der Volkswirtschaftslehre zu sehen. Alle die damit zusammenhängenden künstlichen Konstruktionen haben wir auf Grund der psychischen Auffassung der Wirtschaft nicht nötig.

Diese Beschränkung der ökonomischen Wissenschaft auf ein ökonomisches Auswahlprinzip, das sonderbarerweise infolge der falschen Auffassung des Oekonomischen heute als ganz un- brauchbar gilt und das man durch ein „soziales“ Auswahlprinzip zu ersetzen sucht, hindert natürlich keineswegs, späterhin die Beziehung

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der wirtschaftlichen Erscheinungen zu allen möglichen gesellschaft- lichen, staatlichen usw. ebenfalls zu betrachten. Sie ermöglicht nur, zunächst einmal das Oekonomische klar zu erkennen, woran es bisher fehlte. Alle bisherigen Theorien sind zu einem guten Teil auch daran gescheitert, daß sie, mangels richtiger Erfassung der Wirtschaft und der Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft, diese von Anfang mit Problemen belasteten, welche den zahlreichen Beziehungen des Wirt- schaftlichen zu anderen Erscheinungen des menschlichen Zusammen- lebens angehören und die ohne vorausgegangene Klarstellung der Wirt- schaft und des tauschwirtschaftlichen Mechanismus nicht untersucht werden können.

2. Versuche einer „sozialen“ Objektsbestimmung in der Wirtschaftswissenschaft.

Unsere Objektsbestimmung, die auf ein psychisches Moment als Identitätsprinzip der ökonomischen Wissenschaft zurückführt, ist nun der herrschenden durchaus entgegengesetzt. Im Prinzip ist sie zwar schon vertreten worden durch H. H. Gossen, der die National- ökonomie zu einer „Genußlehre“ machen wollte; aber er ist auf dieser Grundlage nicht zu einer Erklärung der Tauschvorgänge gelangt (und zwar, wie wir in dem Aufsatz über Gossen in dieser Zeitschrift, Ill. Folge, Bd. 40, 1910 gesehen haben, wegen des Fehlens des Kosten- begriffes), hat darin auch keine Nachfolger gefunden, sondern alle neueren Theoretiker halten an der materialistischen Auffassung der Wirtschaft als einem Axiom fest. Aber dieses materialistische Identitätsprinzip und diese materialistische Objektsbestimmung erwies sich immer mehr als unmöglich, um auf ihrer Grundlage die tauschwirtschaftlichen Vorgänge, insbesondere Preis- und Einkommensbildung erklären zu können, und deshalb ist man in neuester Zeit bestrebt, nicht die materialistische Auffassung zu beseitigen, aber sie durch ein weiteres Merkmal zu ergänzen und damit das Objekt der ökonomischen Wissenschaft einzuschränken und näher zu begrenzen. Es ist also das Charakteristikum aller dieser neuen Bestrebungen, daß sie an der materialistischen Grundlage der Wirtschaft, die, weil von alters her überliefert, als Axiom gilt, festhalten, daß sie aber durch Hineintragung eines anderen Gesichtspunktes und Identitätsprinzips das Objekt der „Sozialökonomik“ enger abzugrenzen trachten. Alle diese Versuche "können wir unter der Bezeichnung Versuche einer sozialen Objektsbestimmung zusammenfassen.

Die Vertreter der soziologischen Richtungen sprechen allerdings meist nicht von einem sozialen Objekt der Wirtschaftswissen- schaft, sondern von einer „sozialen Betrachtungsweise“. Diese wird gewöhnlich als selbstverständlich angesehen, und die Ver- treter der Privatwirtschaftslehre haben es dann leicht, das Vor- handensein einer besonderen privatwirtschaftlichen Be- trachtungsweise zu begründen. Wir werden aber zeigen, daß die Unterscheidung dieser beiden sogenannten „Betrachtungsweisen“,

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deren logische Natur man niemals näher untersucht hat, in der Hauptsache nichts anderes ist als die Frage nach dem Objekt der Wirtschaftswissenschaft. Die Privatwirtschaftslehre untersucht ein Teilobjekt der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft, die „soziale Betrachtungsweise“ aber, wie sie heute vielfach gefordert wird, be- ruht, wie wir unten sehen werden, auf Unklarheiten und falschen Anschauungen über den Zweck der Wirtschaft.

Wir haben als Vertreter der sozialen Betrachtungsweise im vorigen Kapitel schon Stammler und Diehl kennen gelernt und haben uns jetzt noch mit anderen Anhängern dieser Richtung zu beschäftigen, mit Amonn und Stolzmann, die mit ihren methodo- logischen Erörterungen dem eigentlichen logischen Kern des Problems schon näher kommen, weshalb wir unsere Anschauung darüber an ihrer Besprechung erläutern können.

Alfred Amonn, dem wir uns zuerst zuwenden, ist in seinem Buche: Objekte und Grundbegriffe der theoretischen Nationalökonomie, 1911, in Vertretung des sozialen Charakters der Volkswirtschaftslehre und in der Ablehnung der individualistischen Betrachtungsweise mit seinen positiven Ergebnissen nicht über Stammler hinausgekommen, den er aber eine wissenschaftliche Nachlässigkeit, die er einmal klarstellen müßte mit keinem Worte erwähnt. Ich habe von Amonns Auffassung schon in dem Aufsatz über das Wesen der Wirtschaft gesprochen. Er will das Objekt der Nationalökonomie, die „sozialen Verkehrsbeziehungen“, nur da erblicken, wo mehrere Personen auf Grund des Privateigentums und des Geldes miteinander in Tausch- verkehr treten. Er glaubt überall besondere „Sozial“-Begriffe konstruieren zu können und bemüht sich auch, sie zu definieren. Diese Definitionen und Voraussetzungen, mit denen er arbeitet, sind aber so künstlich und kompliziert, daß schon dadurch allein eine Erklärung der wirtschaftlichen Probleme, geschweige denn eine bessere Erklärung als durch die individualistische Betrachtung, die diese Voraussetzungen nicht braucht, sehr in Frage gestellt erscheint. So entstehen nach Amonn alle spezifisch sozialökonomischen Probleme „nur bei einem sozialen(!) Tausch, d. h. bei einem zwischen mehreren Personen auf Grund eines sich gegenseitig bedingenden und miteinander korrespondierenden (?) Willens sich vollziehenden Tausche“. Daß das klar sei, wird man nicht behaupten können, ebensowenig was nun das Wesen eines „nicht-sozialen“ Tausches ist. Der soziale Tausch setzt weiter „eine bestimmte Form des Tausches oder sozialen Verkehrs“ statt Tausch wird gern der unklare Aus- druck „sozialer Verkehr“ verwendet voraus, „d. h. eine unabhängig vom Willen des Tauschenden geltende soziale Ordnung der Organisation des sozialen Tauschverkehrs“. „Diese wird charak- terisiert durch die folgenden vier wesentlichen Momente: 1) die Anerkennung eines in gewisser Hinsicht ausschließlichen (d.h. von allen anderen zu respektierenden, aber nicht notwendig unbe- schränkten) individuellen Verfügungsrechts über äußere, d. h.

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außerhalb der Person eines der Tauschenden befindliche Objekte (als Voraussetzung des Tausches); 2) die Anerkennung eines freien, d. h. ganz von dem individuellen Willen der sozialen Verkehrs- subjekte abhängigen Wechsels dieses Verfügungsrechts (als Zweck des Tausches) zugleich mit der dauernden Bindung an die einmal getroffene Verfügung; 3) Freiheit (d. h. lediglich vom indivi- duellen Willen der Tauschenden abhängige Möglichkeit) der Be- stimmung des quantitativen Verhältnisses der auszu- tauschenden Verkehrsobjekte! (weil darin alle nationalökonomischen Probleme, speziell das Preisproblem, wurzeln!); 4) die Anerkennung eines allgemeinen sozialen Wertmaßes (!) und Tauschmittels (als Bedingung der Vergleichungsmöglichkeit dieser sozialen Tausch- oder Verkehrsakte).“

Man sieht, daß auch hier, wenn auch stark verklausuliert und umschrieben, in den Punkten 1, 2 und 3 die Rechtsordnung eine entscheidende Rolle spielt. Denn auch für Amonn ist die materialistische Auffassung der Wirtschaft Dogma, und wenn man einmal darin festgefahren ist, gibt es kein anderes Mittel als die „soziale Regelung“, um die wirtschaftlichen Erscheinungen von der Technik zu unterscheiden. Sehr charakteristisch dafür ist auch unter 3 die „Freiheit der Bestimmung des quantitativen Verhältnisses der auszutauschenden Verkehrsobjekte“, als ob es beim Tausch auf Quantitätsverhältnisse ankäme!l Aber allerdings das ist die Kon- sequenz der materialistischen Auffassung, und hier haben offenbar die „mathematischen Nationalökonomen“ mit ihren Quantitätsgleichungen auf Amonn eingewirkt. Einen Grundfehler seiner Auffassung, den Amonn allerdings mit allen bisherigen Theorien teilt, enthält dann, um nur das Wichtigste zu erwähnen, die 4. Voraussetzung: das Geld gibt keine „Vergleichungsmöglichkeit sozialer Tauschakte“ d. h. doch offenbar eine soziale Vergleichungsmöglichkeit, Vergleichungsmöglich- keit für eine „soziale Betrachtungsweise“. Denn das Geld und die Geldausdrücke, die Preise, bieten noch nicht einmal eine indivi- duelle Vergleichungsmöglichkeit, eine solche innerhalb der einzelnen Wirtschaft. Daß ein Paar Stiefel und eine Reise von Berlin nach Frankfurt beide 20 M. kosten, bedeutet keinerlei soziale Gleich- artigkeit, sondern diese Preise bedeuten trotz ihrer Gleichheit für jeden etwas Verschiedenes, sind daher zwischen mehreren Personen nicht vergleichbar. Sie können daher auch nur aus ihrer individuellen Bedeutung erklärt werden. Aber auch für das Individuum be- deuten sie nur gleiche Kosten, nicht aber gleichen Nutzen. Mit anderen Worten, die Preise sind niemals, auch nicht für dasselbe Individuum der Ausdruck eines subjektiven Wertes. Das betone ich Jetzt seit 10 Jahren, leider noch immer ohne Erfolg. Mit der Er- kenntnis jenes Grundirrtums über das Wesen und die Bedeutung des Geldes erweist sich aller Objektivismus und alle soziale Be- trachtungsweise als unmöglich. Sie führt mit logischer Notwendig- keit zur psychischen Auffassung der Wirtschaft. Wann werden unsere Nationalökonomen das einsehen ?

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Es ist klar, daß diese Beschränkung der Wirtschaftswissen- schaft auf ausschließlich tauschwirtschaftliche Vorgänge, wobei also deren letzte Ursache, die wirtschaftlichen Erwägungen der ein- zelnen Menschen ganz außerhalb ihres Gebietes bleiben sollen, eine reine Verlegenheitsmaßregel, eine bloße Ausflucht ist. Man nahm sie vor, bezw. glaubte sich zu ihr gezwungen, weil es bisher, wie u. a. Amonn offen eingesteht, nicht gelungen war, das Wesen der Wirtschaft so zu erfassen, daß ihre Einheitlichkeit, die Gleich- artigkeit der sie leitenden Prinzipien sowohl in der Einzelwirtschaft als auch beim Tauschverkehr hervortrat. Das hat seinen Grund in der falschen technisch-materialistischen Auffassung des Inhaltes der Wirtschaft, wonach sie eine Beziehung des Menschen zu den Gütern der Außenwelt bedeutet. Von dieser Auffassung aus hatte man trotz unendlichen Bemühens die Erscheinungen des Tauschverkehrs nicht erklären können.

Man verfiel nun aber nie darauf, zu erörtern, ob nicht das Wesen der Wirtschaft anders gefaßt werden müsse und daß das nie geschah, ist zweifellos ein gewaltiges Armutszeugnis für die heutige Wissenschaft sondern nahm in der geschilderten Weise eine einschränkende Abgrenzung vor, welche dadurch, daß man einen fremden Gesichtspunkt, Rechtsordnung, gesellschaftliche Erschei- nungen, hineintrug, die ökonomischen Probleme mit denen anderer Wissenschaften, insbesondere der Soziologie, vermischte.

Als Folge dieser Abgrenzung ergibt sich die Merkwürdigkeit, daß die Wirtschaftswissenschaft oder Sozialökonomik ihrem Wesen nach nicht etwa durch das Oekonomische, sondern eben durch die soziale Regelung oder durch Amonns verschiedene „Voraussetzungen sozialer Verkehrsbeziehungen“ bestimmt werden würde. Da es aber außer der Sozialökonomik auch noch andere Sozialwissenschaften gibt, so ist die Bezugnahme auf die Rechtsordnung oder auf die sozialen Verkehrsbeziehungen keine Begriffsbestimmung des Sozialen. Man weiß daher nicht, welches der Kreis der Erscheinungen ist, die das Hineintragen des in der üblichen Weise materialistisch auf- gefaßten Oekonomischen auf einmal zum Gegenstand der Sozial- ökonomik machen soll. Und endlich bleibt vollkommen unklar, was denn aus denjenigen ökonomischen Vorgängen wird, die nun nicht Gegenstand der Sozialökonomik sein sollen. Es ist kein Zweifel, daß diese ganze künstliche Bestimmung des Objekts der Sozial- ökonomik dem, was man von jeher als wirtschaftliche Probleme angesehen hat und was man im täglichen Leben wirtschaftliche Vorgänge nennt, nicht gerecht wird.

Alledem gegenüber hätte es wahrhaftig nahegelegen, einmal zu untersuchen, ob nicht das Wesen der Wirtschaft ganz anders aufgefaßt werden müsse. Sonst hätte man längst zur psychischen Auffassung kommen müssen. Man begnügte sich damit, in der geschilderten Weise eine einschränkende Abgrenzung vorzunehmen, welche dadurch, daß man einen fremden Gesichtspunkt, Rechts- ordnung, gesellschaftliche Erscheinungen u. dgl. hineinzog, zu-

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gleich auch wieder eine Erweiterung und Verbreiterung, also eine Vermischung des Objekts der Wirtschaftswissenschaft mit anderen bedeutete.

Sehen wir nun aber zu, wie die Vertreter dieser Richtung ihr soziales Objekt oder ihre soziale Betrachtungsweise begründen. Was wird als Begründung dafür angegeben, daß in der Wirtschafts- wissenschaft nicht das Wirtschaftliche als das logisch Ein- heitliche angesehen, sondern aus dem Wirtschaftlichen alles das abgetrennt wird, was nicht sozial bedingtundsozial bedeut- sam ist? Denn es bedarf doch wohl einer besonderen Begründung, daß die Sozialökonomik gar nichts mit der Oekonomik zu tun haben solle, daß ihr Inhalt jedenfalls nicht durch das Oekonomische, sondern allein durch den doch zweifellos recht unklaren Begriff sozial bestimmt werden, und daß analog wohl auch die Sozial- psychologie nichts mit Psychologie, die Sozialethik nichts mit Ethik zu tun haben soll!). Diese Begründung findet man, abgesehen von dem negativen Umstande, daß es eben auf Grund der bisherigen Auffassung des Wirtschaftlichen nicht gelang, die Tauschvorgänge befriedigend zu erklären, einzig und allein in einem methodologischen Begriffe, dem der Sozialwissenschaft. Die Nationalökonomie sei, so argumentiert z. B. Amonn, eine Sozialwissenschaft, und daher sei es unmöglich, das Wirtschaftliche zu ihrem Identitätsprinzip zu machen. Es gäbe auch soziale Erscheinungen weit über den Kreis des Wirtschaftlichen hinaus. Diese müsse man also ausschalten, wenn die Nationalökonomie eine Sozialwissenschaft sei. Wirtschaft- lich und sozial seien zwei ganz heterogene Begriffe, und es käme darauf an, die wirtschaftliche Sozialwissenschaft von anderen Sozial- wissenschaften zu unterscheiden. Man hätte daher das Kriterium zu finden, durch das aus den allgemeinen sozialen Beziehungen sozialökonomische Beziehungen entstehen. Das ist durchaus folgerichtig, aber man erkennt, daß diese ganze Beweisführung allein an dem Satze hängt, daß die Volkswirtschaftslehre eine Sozialwissenschaft sei. Wir werden unten zeigen, daß von einem derart allgemeinen und dazu noch durchaus unklaren Begriff der Inhalt einer Wissenschaft nicht bestimmt werden kann, deren Probleme und Aufgabe durch die Beobachtung und Erfahrung klar vorliegen. Das Problem, wie die tauschwirtschaftlichen Vorgänge auf subjektive Bedarfsempfindungen zurückzuführen seien, läßt sich nun einmal nicht durch Statuierung einer Sozialökonomik als Zweig der Sozial- wissenschaft hinwegdisputieren. Daher hat auch Amonn zugeben müssen, daß man schließlich doch auf individualistische Begriffe komme, daß die kausale Erklärung des Preises auf den subjektiven Wertbegriff (richtiger gesagt: auf individuelle Bedürfnisse) zurück- führe (a. a. O. S. 366). Das ist ja nun eine Binsenwahrheit, eine

1) Worauf E. Heimann mit Recht aufmerksam macht: Methodologisches zu den Problemen des Wertes und des wirtschaftlichen Prinzips. Archiv für Sozialwissen- schaft u. Sozialpolitik, Bd. 37, S. 758 ft.

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Selbstverständlichkeit, aber sie wird von den Vertretern der sozialen Betrachtungsweise, die für alle individuellen wirtschaftlichen Vor- gänge blind sind, vollkommen übersehen. Was bleibt aber von der ganzen mühsamen Begründung der Sozialökonomik durch Amonn übrig, wenn er selbst zugeben muß, daß „die Nationalökonomie hier zum Zwecke der vollständigen Auflösung eines ihr eigentümlichen Problems über ihre methodologischen Grenzen hinausgeht“? Mit Recht wendet E. Heimann dagegen ein!), daß damit die National- ökonomie als selbständige Wissenschaft abdanke, und daß der Preis, da er zweifellos das Hauptproblem der Sozialökonomik ist, nicht ihr Grundbegriff sein könne Wenn Amonn aber zugibt, daß für die Erklärung der Preisbildung „die nationalökonomische Betrachtung zum Zwecke der vollständigen Auflösung eines ihr eigentümlichen Problems über ihre methodologischen Grenzen“ hinausgehen muß, so dürfte es doch wohl richtiger sein, diese „methodologischen Grenzen“ zu revidieren, und es dürfte naheliegend sein, daß jene vier recht unklaren und künstlich konstruierten Voraussetzungen oder „Bedingungen des sozialen Verkehrs“, welche die spezifisch sozialökonomischen Probleme, das Erkenntnisobjekt der National- ökonomie bestimmen sollen, zweckmäßiger durch andere ersetzt werden, die das Erkenntnisobjekt in einer Weise bestimmen, daß man für die Erklärung der Hauptprobleme nicht alsbald über seine Grenzen hinausgehen muß.

So zeigt sich auch methodologisch, daß die soziale Betrachtungs- weise die Untersuchung der Einzelwirtschaften nicht entbehren kann, und es würde sich noch viel mehr zeigen, wenn sie mehr über das Stadium methodologischer Erörterungen hinaus zu einer positiven Theorie gekommen wäre. Denn ganz abgesehen von aller Methodologie, ist doch schon für den einfachen Menschenverstand klar, daß das, was alle Welt als wirtschaftliche Erscheinungen und Probleme kennt, nur auf der Grundlage der Kenntnis der Einzelwirtschaften und ihrer Handlungen und Erwägungen erklärt werden kann. Denn es ist selbstverständlich, daß alle Erscheinungen des Tauschverkehrs, auch die kompliziertesten, wie die Preisbildung, ja selbst das Geld in seiner wirtschaftlichen Funktion, letzten Endes auf die Bedürfnisse der Einzelwirtschaften zurückgehen und aus ihnen erklärt werden müssen.

Da das die Aufgabe der Wirtschaftstheorie ist und, auch wenn die Volkswirtschaft ein noch so geschlossener, einheitlicher Gesam t- körper wäre, sie von dieser Aufgabe, den Tauschverkehr auf die Be- dürfnisse der Individuen zurückzuführen, nicht entlastet werden könnte, so haben alle jene Konstruktionen einer sozialen Betrachtungs- weise oder eines sozialen Objekts auch als Hilfsmittel des Denkens oder Erkennens keinerlei Berechtigung. Sie sind, wie schon gesagt, nichts weiter als ein Verlegenheitsmittel, um überhaupt ein wirt- schaftliches Objekt von der Teehnik, die man mit der Wirtschaft verwechselte, abtrennen zu können.

1) a. a. O. S 764.

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Dabei kam ihr, außer der Bedeutung, die der Staat und seine Politik für die wirtschaftlichen Verhältnisse hat und von der wir später noch sprechen werden, vor allem auch der Ausdruck Volks- wirtschaft entgegen. Denn es ist offenbar: im Hintergrund der ganzen sozialen Betrachtungsweise steht immer der Irrtum, als ob die „Volkswirtschaft“, „Sozialwirtschaft“, „Gesamtwirtschaft“, und wie die von den Anhängern dieser Richtung beliebten Ausdrücke alle heißen, selbst eine Wirtschaft sei, Das ist ja durch die Ge- schichte der Wissenschaft, ihre Verwechslung mit der Volkswirt- schaftspolitik, den heute noch herrschenden Gedanken der Ver- tlungslehre u. dgl. erklärlich. Wären die tauschwirtschaftlichen Beziehungen eine Einheit, eine Wirtschaft oder etwas Aehnliches, so wire der „soziale Körper“, von dem man auszugehen hätte, allein die „Weltwirtschaft“. Sie ist im Gegensatz zur Volkswirtschaft ein rein wirtschaftlicher Begriff. Volkswirtschaft ist, wie wir unten zeigen werden, ein politisch-wirtschaftlicher Begriff, der einen nicht-wirtschaftlichen Gesichtspunkt, den Staat, mitherein- zieht; daß man von ihm aus die tauschwirtschaftlichen Vorgänge nicht erklären kann, erkennt man aber erst deutlich vom Standpunkt derpsychischen Auffassung der Wirtschaft aus. Nach der herrschenden Auffassung, für die Wirtschaft = Technik, wirtschaften = pro- duzieren ist, kann man schließlich ebensogut sagen, die Volkswirt- schaft produziert, wie die Einzelwirtschaft produziert. Erst wenn man erkennt, daß Wirtschaften überhaupt nicht Produzieren, nicht der technische Akt der Güterbeschaffung, sondern etwas Psychisches, ein Disponieren ist, wird auch klar, daß der Tauschverkehr, der tauschwirtschaftliche Mechanismus keine Wirtschaft ist, überhaupt nichts von einem einheitlichen Willen Geleitetes und durch einen einheitlichen Zweck Geschaffenes. Sondern er ist nichts weiter als Beziehungen zwischen Einzelnen, von denen jeder formal dieselben Zwecke verfolgt, aber im Widerstreit mit denen der anderen. Daraus ergeben sich von selbst, ohne bewußtes Eingreifen, die tauschwirt- schaftlichen Erscheinungen und Vorgänge, wie Preis, Einkommen, Kapital, Kredit, Krisen usw., die in ihrer Entstehung und in ihrem Zusammenhang zu erklären Aufgabe der ökonomischen Theorie ist.

Daher ist die Frage, die Diehl aufwirft, ganz falsch gestellt, ob es „die erste Aufgabe sei, die Einzelwirtschaft und nicht die Gesamtwirtschaft zu betrachten“, denn es gibt eben keine Gesamt- wirtschaft. Der Vorstellung von der Gesamtwirtschaft liegt immer der Gedanke der Volkswirtschaft zugrunde, der wirtschaft- lichen Verhältnisse und Beziehungen in einem bestimmten Staate. Für die Wirtschaftstheorie, für die allgemeine Erklärung der tausch- wirtschaftlichen Vorgänge aber gibt es eben keine Volkswirtschaft sonst müßte man auch angeben, welche Volkswirtschaft gemeint ist —, da gibt es nur Beziehungen zwischen Einzelwirtschaften, wobei es ganz gleich ist, ob diese nur der deutschen Volkswirtschaft oder zum Teil auch der französischen, amerikanischen, chinesischen angehören. Ich will ein Beispiel anführen, das anscheinend geeignet ist, den Vertretern der sozialen Betrachtungsweise recht zu geben,

42 Robert Liefmann,

weil es den wirtschaftlichen Faktor heranzieht, bei dem am we- nigsten von der rechtlichen Regelung abstrahiert werden kann, das Geld. Wenn ein deutscher Kaufmann mit einem ausländischen in Tauschverkehr tritt, vollzieht sich die Preisbildung wegen der Ver- schiedenheit der Währung und der Valutaverhältnisse, die von den gesamten internationalen Beziehungen der beiden „Volkswirtschaften“, hier im wahren Sinne, abhängig sind, zweifellos”in vieler Hinsicht anders, als wenn zwei deutsche Kaufleute in Tauschverkehr treten. Und dennoch: die allgemeine Erklärung der Preisbildung, die Preistheorie, ignoriert die Verschiedenheit des Geldes, die staat- lichen und die volkswirtschaftlichen Einwirkungen darauf, den Stand der Wechselkurse vollkommen. Sie nimmt einfach ein allgemeines Tauschmittel, einerlei welcher Art, als gegeben an, und ihre Er- klärung gilt für jeden Preis, ohne Rücksicht auf das Geld, in dem er ausgedrückt wird, ohne Rücksicht darauf, ob er in einer Volks- wirtschaft entsteht oder zwischen Angehörigen verschiedener Volks- wirtschaften. Von einer „Gesamtwirtschaft“, die dadurch zwischen den Tauschenden gebildet würde, einem „sozialen Körper“ mit eigenen Zweckplan kann keine Rede sein. Gerade die „soziale“ Erfassung des Preises, d. h. die Erkenntnis und Erklärung der gegenseitigen Bedingtheit, des Zusammenhangs aller Preise, die allen bis- herigen Theorien fehlt, erfolgt, ohne daß die Tauschenden dabei zu einer Gesamtwirtschaft, zu „Gemeinschaftsbeziehungen“ „zusammen- geschlossen“ gedacht werden. Was sie tatsächlich oft Gemeinsames haben können, eine gewisse Gleichartigkeit der Bedürfnisse, die bei Deutschen oft anders gerichtet sind als bei Franzosen, bei Arbeitern oft anders als bei den besitzenden Klassen, die Berücksichtigung solcher soziologischer Momente, die bei den einzelnen Güterarten sehr verschieden auf ihre Preise einwirken, das ge- hört nicht in die allgemeine Preistheorie, die für alle Preise gilt. Wohl kann die Wirtschaftswissenschaft weiterhin auch den Einfluß soziologischer Momente, Sitte, Gewöhnung u. dgl. auf die Bildung einzelner Preise untersuchen, aber es ist klar, daß auch alle solche Momente die tauschwirtschaftlichen Beziehungen niemals zu einer Einheit, einer Gesamtwirtschaft machen.

Diese falsche Auffassung spielt heute in den verschiedensten Formen eine Rolle, so z. B. neuestens bei v. Wieser im Grundriß für Sozialökonomik (Bd. I $ 2). Er legt seinem ganzen theoretischen System eine völlig falsche und unklare Auffassung zugrunde, wenn er sagt, „die Theorie der einfachen Wirtschaft geht von der ideali- sierenden Annahme aus, daß das Subjekt der Wirtschaft eine einzige Person sei; doch ist es keineswegs die dürftige Wirtschaft eines isolierten Robinson, sondern die Verhältnisse der Gütererzeugung sind in der ganzen großen Ausdehnung gedacht, die nur durch die Tätigkeit eines Volkes erreicht werden kann, dabei ist aber die millionenköpfige Volksmenge als eine Einheit zusammengefaßt, so wie man die Mensch- heit als eine Einheit der Natur gegenüberzustellen pflegt“ ($ 2). Das ist eine logische Unmöglichkeit. Wirtschaften tun nur die ein- zelnen Menschen, und man kann den einzelnen wirtschaftenden Men-

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schen in den Tauschverkehr hineingestellt betrachten oder natural- wirtschaftlich, etwas anderes gibt es nicht. Beim Wirtschaften wird aber nicht „die ganze Menschheit als Eins gedacht der Natur gegen- übergestellt“ (ebenda), das ist die alte Verwechslung von Wirtschaft und Technik, wirtschaften und produzieren, während Wirtschaften einDisponieren, also eine psychische Erscheinung und in seinen Wirkungen im Tauschverkehr ein Verhältnis von Mensch zu Men- schen ist.

Denselben Fehler bedeutet es auch, wenn Diehl und andere die Einzelwirtschaften als „dienende Glieder“ der sozialen Gesamt- heit, als „Funktionäre wichtiger sozialer Dienste“ hinstellen, oder wenn es heute bei vielen Vertretern dieser Richtung üblich wird, von der „gesellschaftlichen Funktion“ der Einzelwirtschaften zu sprechen. Es ist das ein sehr naheliegender Ausweg aus einem Di- lemma, in das die technisch-materialistische Auffassung der Wirt- schaft unsere Theoretiker bringt, und aus dem sie sich eben nur mit der Sozialökonomik, der sozialen Betrachtungsweise retten können. Fragt man nämlich, welches der Zweck einer Erwerbs- wirtschaft, beispielsweise einer Schuhfabrik sei, so wird man regel- mäßig die Antwort erhalten: natürlich Schuhe zu produzieren. Das ist die Konsequenz der technisch-materialistischen Auffassung. Wenn man darauf hinweist, daß das doch sicher nicht der Zweck des Schuh- fabrikanten sei, der ihn offenbar mit der Herstellung der Schuhe keineswegs als erfüllt ansehe, so wird geantwortet: „Ja, Gewinn- erzielung ist der privatwirtschaftliche Zweck, Schuhe herzu- stellen aber „selbstverständlich“ der volkswirtschaftliche Zweck“. In diesem kleinen Beispiele ist in nuce die einzigste Begründung der sozialen Betrachtungsweise enthalten. Sie liegt in der herge- brachten materialistischen Auffassung, der Verwechslung von Wirt- schaft und Technik. Und man erkennt daraus, daß sie darauf hinausläuft, in der Volkswirtschaft, im Tauschverkehr ein Gebilde mit eigenem, von dem der Einzelwirtschaften verschiedenem Zweck zu sehen. Auch der Ausdruck „gesellschaftliche Funktion“, der, von der Mathematfk hergenommen, an sich eine ganz unbestimmte „Beziehung“ bedeutet, dient in der ökonomischen Theorie meist dazu, die klare logische Kategorie Zweck und Mittel zu verschleiern. Daher ist derartigen Ausdrücken, die leider heute sehr häufig sind, mit dem größten Mißtrauen zu begegnen.

Wir erkennen jetzt aber: Die ganze Frage der sozialen Be- trachtungsweise oder des sozialen Objekts läuft hinaus auf die Be- stimmung der Zwecke im Wirtschaftsleben und ihrer Subjekte. Vondem Zweck der Volkswirtschaft soll daher im folgenden Paragraphen noch die Rede sein.

3. Der Zweck in der Volkswirtschaft.

Eine soziale Betrachtungsweise ist mit mehr oder weniger Klar- heit von manchen gefordert worden, Stammler, Diehl, Amonn sind hier vor allem zu nennen, v. Zwiedineck scheint von einem

44 Robert Liefmann,

Eklektizismus zwischen individualistischer und sozialer Betrachtungs- weise zu träumen und auch bei v. Wieser zeigen sich Anklänge in dieser Richtung, die aber sicher eher geneigt sind, abschreckend zu wirken. Ein wirklicher Versuch, mit der sozialen Betrachtungs- weise die wirtschaftlichen Erscheinungen zu erklären, obgleich man von einem theoretischen System auf dieser Grundlage kaum reden kann, ist bisher nur von R. Stolzmann mit seinen beiden Werken: Die soziale Kategorie in der Volkswirtschaft, 1896, und Der Zweck in der Volkswirtschaft, 1909, gemacht worden. Wenn er auch als verfehlt zu bezeichnen ist, weil er die Lösung der Probleme des Tauschverkehrs, insbesondere die Erklärung der Preis- und Einkommensbildung nicht fördert, da er trotz anderen Ausgangspunktes auf dem gleichen Grundfehler wie die bisherige Theorie, auf der materialistischen Auffassung der Wirtschaft beruht, so ist er doch sehr viel anerkennenswerter als die Worte der Nur- Methodologen, denen die Taten nicht folgen.

Neuestens hat Stolzmann in den beiden schon erwähnten Aufsätzen: Die Kritik des Subjektivismus an der Hand der sozialorganischen Methode und Die Kritik des Ob- jektivismus und seine Verschmelzung mit dem Sub- jektivismus zursozialorganischen Einheit (Bd. 103 u. 104) seinen Standpunkt auch methodologisch sehr viel schärfer formuliert und für die von ihm behauptete Notwendigkeit der sozialen Be- trachtungsweise, der „sozialorganischen Methode“, wie er es nennt, eine sehr viel tiefer gehende und klarere Begründung gegeben als die angeführten, einer wirklichen Begründung entbehrenden Forde- rungen Diehls. Stolzmann argumentiert, möglichst kurz gefaßt, folgendermaßen (Die Kritik des Subjektivismus, S. 145): Er will den „Dualismus der objektivistischen und subjektivistischen Schulen, deren hartnäckiger Streit die Wissenschaft seit einem halben Jahrhundert erschüttert, überwinden“, indem „die streitenden Prin- zipien sich der Einheit eineshöheren Prinzips unterzuordnen haben“. „Das ist das Sozialprinzip, der soziale Gedanke, der in der Lehre vom wirtschaftlichen Seinsollen und auf dem Gebiete der praktischen Politik schon heute gesiegt hat. Wie dort die ‚soziale Frage‘ als ein Problem der Organisation erkannt wird, so muß in der Lehre vom wirtschaftlichen Sein die bestehende Volkswirtschaft als ein ‚Organismus‘ erfaßt werden; aber, um alle materialistische Mißdeutung schon an der Schwelle abzuweisen, nicht als ein Or- ganismus im Sinne eines Naturgebildes, das man seinem Gange zu überlassen hat, sondern als ein historisch-variables Zweckgebilde, als eine geistige Schöpfung, die, trotz aller ihrer naturgegebenen Be- dingungen, ein Menschenwerk bleibt, und deshalb auch von den Menschen geändert und gebessert werden kann.“

Auch für Stolzmann sind nicht bloße Beziehungen, Tauschver- kehrsvorgänge zwischen zahlreichen, dadurch miteinander ver- flochtenen Einzelwirtschaften das Objekt der „Sozialökonomik“, sondern er kann sie sich das ist ihm nun einmal ebenso wie bei

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 45

Diehl Glaubenssatz nur als eine Einheit, als einen Organismus, als einen „sozialen Gesamtkörper“ vorstellen. Diese Einheit soll durch die Rechtsordnung geschaffen werden. Daß diese Einheit eine Fiktion ist, daß der nicht durch das Dogma und den Glauben getrübte Blick bei der Beobachtung der wirtschaftlichen Erscheinungen in der ganzen Welt natürlich kann man die wirtschaftlichen Vorgänge auch vom national-politischen, vom gesellschaftlichen, vom ethischen usw. Stand- punkt aus betrachten, aber das ist eben nicht der wirtschafts- wissenschaftlicke nur Tauschvorgänge zwischen Einzelwirt- schaften sieht und daß daraus sich die Preise und Einkommen er- geben und daher auch so erklärt werden müssen, das will eben Stolzmann nicht wahr haben. Es ist geradezu drollig, zu sehen, wie bei ihm, wenn er einmal zugeben muß, daß schließlich auch! (wie er behauptet) die individuellen Bedürfnisse den Tauschverkehr organi- sieren, doch alsbald immer wieder ein neues soziales Schlagwort auftaucht.

Ich hätte keine Veranlassung, auf diese durch die zahllosen fiktiven Sozialbegriffe gänzlich abwegigen Gedankengänge einzugehen, wenn nicht trotz alledem Stolzmanns Begründung seiner Betrach- tungsweise sehr viel tiefer griffe als die Diehls und die Kritik daher hier vor allem einzusetzen hat und dabei auch schlagend die Unmöglichkeit dieser ganzen Betrachtungsweise nachweisen kann. Stolzmann geht nämlich insofern über Diehl hinaus, als er eine Konsequenz, die dieser natürlich auch ziehen müßte seiner „Volks- wirtschaft“, seinem „sozialen Gesamtkörper“, seiner „Gesamtwirt- schaft“ auch einen eigenen Zweck zuschreibt. Das ergibt sich schon aus dem Titel seines Hauptwerks: „Der Zweck in der Volkswirtschaft, die Volkswirtschaft als ethisch-soziales Zweck- gebilde* und aus Dutzenden von Stellen in seinen Werken. Ich führe nur zwei Stellen aus seinen beiden letzten Aufsätzen an, in denen er von dem „Zweckplan der Volkswirtschaft“ (S. 175), von der „planmäßigen Organisation des sozialen Körpers“ (S. 176), vom „sozialen Produktionsplan“ (S. 181), vom „Zweck des über- geordneten sozialen Ganzen“ (S. 184) u. dgl. spricht. S. 183 heißt es unter anderem: „Ueber diesen beiden Zwecken (der Produzenten und der Konsumenten!) steht ein dritter Zweck, ein Zweck höherer Ordnung, der organische ‚Zweck der Volkswirtschaft‘, der jene beiden Zwecke erst einheitlich zusammenfaßt.“ Alle solche Phrasen sind um so willkürlicher, als nun niemals untersucht wird, worin denn dieser angebliche soziale „Zweckplan“ besteht. Fragt man Stolzmann danach, so kommt er immer nur wieder auf die Zwecke von Individuen. „Der gesellschaftliche Körper so glaubt Stolzmann auf meine Kritik erwidern zu können, daß es keine Sozialwirtschaft und keinen sozialen Gesamtkörper gäbe schwebt nicht als abstrakter Astralleib über den Individuen, sie sind sein Zweck und Inhalt, das Gesellschafts- und das Individualinteresse sind solidarisch und komplementär.“ „Was ich mit dem Begriffe des ‚Zwecks in der Volkswirtschaft‘ anstrebte, ist gerade die Er-

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kenntnis der ‚Beziehungen‘ zwischen den Einzelwirts Chaften, nur daß ich lehre, sie iori

wird ganz einfach mit einer neuen sozialen Phrase, dem „Sozialen Gesetze“ geantwortet! Wenn Stolzmann wirklich die wirtschaft-

„Sozialorganische Zweckbetrachtung“ wahrscheinlich aufgegeben. Schließlich wären alle solche Konstruktionen nicht unzulässig, wenn es damit gelänge, wirklich die Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens

stehen nicht mehr am Ende wie bei der kausalen Betrachtung, sondern sie werden als der erste Zweck des sozialen Körpers an- gesehen. Hier kam nun das muß zur Entschuldigung von Stolz-

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in jeder anderen Wissenschaft unmöglich wäre. An diese Ver- teilungslehre konnte Stolzmann mit seiner Erklärung der Einkommen als sozialer Zweck in gewisser Hinsicht anknüpfen. Und während die bisherige materialistische Theorie das Umschlagen in die soziale Betrachtung bei der Einkommenslehre, also die Aufstellung einer Vertei- lungslehre deshalb machen mußte, weil man mit der materialistischen Auffassung eben nicht zur Erklärung der Geldeinkommen gelangen konnte, konnte Stolzmann von seinem Standpunkt aus mit etwas größerem Rechte an der materialistischen Auffassung der Einkommen festhalten. Seine „Nahrungseinheit“, die nach ihm, aber in sehr un- klarer Weise, das die „Verteilung“ Bestimmende ist, kommt, alles natürlich vom materialistischen Standpunkt, in der Konzeption meinem Begriff des tauschwirtschaftlichen Grenzertrags in gewisser Hin- sicht nahe.

Wenn Stolzmann trotzdem mit seiner Theorie gar keinen Ein- fluß gehabt und von Befürwortern der sozialen Betrachtungsweise, wie Amonn und Zwiedineck, nicht einmal erwähnt wird des ersteren Ignorierung Stammlers und Stolzmanns ist allerdings in keiner Weise zu rechtfertigen —, so liegt das an zwei Gründen. Einmal an der Unmöglichkeit seiner Voraussetzungen. Diese soziale Gesamtwirtschaft mit ihrem sozialen Zweckplan, die ganze Auffassung des Tauschverkehrs als soziales Zweckgebilde steht doch mit den Tatsachen der einfachsten Beobachtung in so fundamentalem Wider- spruch, daß man eben nicht darüber hinwegkann und bei der Lektüre von Stolzmanns Schriften an den unklaren und falschen Sozial- begriffen, die darauf basiert werden, immer wieder von neuem An- sto nimmt. Zweitens aber und vor allem kann seine Lehre des- wegen keinen Anklang finden, weil sie trotz ihrer Umkrempelung der ganzen bisherigen Betrachtungsweise die nun einmal vorhandenen Probleme, um deren Lösung man sich seit einem Jahrhundert bemüht, nicht im geringsten ihrer Lösung näher bringt. Mit seiner Auf- fassung der Einkommen als „sozialnotwendiger Abfindungen“ erfahren wir nicht im geringsten, wie durch den tauschwirtschaftlichen Prozeß die Einkommen zustande kommen. Das ein Jahrhundert alte Problem des Verhältnisses von Preis und Kosten, ob die Kosten den Preis, oder der Preis die Kosten bestimmt, ebenso die Frage, ob Angebot und Nachfrage den Preis, oder der Preis Angebot und Nachfrage bestimmt, überhaupt die Erklärung der Preisbildung werden durch ihn keinen Schritt weiter gefördert. Es ist auch ganz klar, daß die Hauptprobleme der Wirtschaftstheorie nun einmal Kausalitätsprobleme sind, und daß man diese Probleme nicht einfach hinwegdekretieren kann, indem man an Stelle der Kausalbetrachtung die Zweckbetrach- tung setzen zu wollen erklärt. Natürlich kann auch Stolzmann schließlich an den Kausalproblemen nicht vorbeigehen und kommt letzten Endes doch auf die Individuen und den subjektiven Wert. Aber im Rahmen seiner den Tauschverkehr als ein Zweckgebilde auf- fassenden „sozialorganischen Methode“ sind klare Erkenntnisse nicht möglich, und auch seine scharfsinnige Kritik der bisherigen Theorien,

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insbesondere der Lehre Böhm-Bawerks, denen er mehr Raum und Zeit gewidmet hat, als sie verdienen, leidet gewaltig unter dem falschen Gesichtswinkel, unter den sie gestellt ist.

Trotzdem möchte ich nicht verfehlen, zu betonen gerade gegen- über der kritiklosen Bewunderung, die seinem Gegner Böhm-Bawerk zu teil wird, ist das angebracht daß Stolzmann in bezug auf Ori- ginalität seiner Ideen und ihre konsequente Durchführung Böhm- Bawerk erheblich überragt.

Die Anhänger der sozialen Betrachtungsweise operieren, ohne sich darüber recht klar zu werden, mit einem eigenen „Zweck der Volkswirtschaft“, der von den Zwecken der Einzelwirtschaft ver- schieden ist oder sie doch zu einem höheren „dritten Zweck“ zu- sammenfaßt. Aber die „Volkswirtschaft“ ist nun einmal kein Zweck- gebilde, sie ist nur ein schlechter Ausdruck für die tauschwirtschaft- lichen Beziehungen, die weit über die Grenze eines Volkes oder Staates hinausgehen. Aber auch diese Beziehungen sind kein Zweck- gebilde, weder in dem Sinne, daß es einen eigenen Zweck verfolgt, noch in dem, daß es gemeinsamen gleichgerichteten Zwecken, also einem gemeinsamen Willen sein Entstehen verdankt. Sondern die tauschwirtschaftlichen Beziehungen sind ein sozusagen naturwissen- schaftliches Ergebnis zahlloser, ihrer formalen Natur nach gleich- artiger, aber gegeneinander gerichteter Zwecke und Willen von Einzelwirtschaften, niemals aber eines gemeinsamen Willens und gemeinsamer Zwecke.

Welche tauschwirtschaftlichen Erscheinungen sind denn nun Zweck? Vor allem die gemeinsamen Wirtschaften, die Gesellschafts- unternehmungen, Vereine, Kartelle, Genossenschaften usw. Sie alle aber sind nur gemeinsame gleichgerichtete Zwecke mehrerer Indivi- duen. Der Tauschverkehr selbst aber ist kein Zweck, weder ein mit denen der einzelnen Wirtschafter identischer das ist nicht möglich, denn die Zwecke der Tauschenden sind verschieden noch ein von ihnen verschiedener besonderer Zweck. Der Tauschverkehr ist überhaupt kein Zweck. Er ist auch keine „geistige Schöpfung“, man muß ihn allerdings „seinem Gange überlassen“, man kann wohl in manche Einzelheiten regelnd eingreifen, hier und da durch die Wirtschaftspolitik zu fördern und zu hemmen suchen. Aber die heutige Wirtschaftsordnung ist ebensowenig durch bewußtes mensch- liches Eingreifen geschaffen worden !!), wie es möglich sein wird, durch solches eine neue Wirtschaftsordnung, etwa den Sozialismus, herbeizuführen.

Auch die wichtigsten tauschwirtschaftlichen Erscheinungen, der Preis und das Geld als solches, sind keine Zwecke und keine geistigen Schöpfungen. Das Phänomen des Preises ist, um einmal paradox zu sprechen, mindestens ebenso sehr eine Naturtatsache wie z. B. das übermangansaure Kali, das in der Natur gar nicht vor-

1) Es ist daher durchaus verkehrt, wenn man die Konkurrenz in der Wirt- schaftswissenschaft heute noch immer als ein Rechtsprinzip auffaßt.

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kommt, oder die Elektronen oder Ionen. Gewiß sind Zwecke Ur- sache alles Wirtschaftens, aber nur individuelle Zwecke, Streben nach Bedarfsbefriedigung. Diese Zwecke sind aber etwas Vor- wirtschaftliches, und die Wirtschaftswissenschaft nimmt diese individuellen Zwecke (natürlich nicht quantitativ) als gegeben an. Sie nimmt die Tatsache als gegeben an, daß der Mensch nach Be- darfsbefriedigung und zwar möglichst vollkommener Bedarfsbefriedi- gung (nicht nur materieller) strebt und untersucht auf Grund dieser vorausgesetzten Zwecke kausal die wirtschaftlichen Erscheinungen. Diese sind aber nicht selbst wieder Zwecke, insbesondere nicht Zwecke einer gedachten sozialen Einheit, kein „übergeordneter dritter Zweck“, sondern sind nur auf individuelle Zwecke zurückzuführen, der Preis und das Geld z. B. auf Einkommenserzielung, d. h. auf das Streben nach Bedarfsbefriedigung, den einzigen Zweck, den es im Wirtschaftsleben gibt. Bei der Verfolgung dieses Zweckes treten die Wirtschaftssubjekte zueinander in Beziehung, und die sich daraus ergebenden komplizierten Erscheinungen des Tauschverkehrs sind vor allem die Probleme der Wirtschaftswissenschaft, wobei man aber nicht, wie Diehl es tut, Einzelwirtschaft und wirtschaftliche Be- ziehungen trennen kann. Denn indem man letztere betrachtet, wo- fern man sie nur nicht als Einheit, als Gebilde mit eigenem „Zweck- plan“ auffaßt, betrachtet man auch gleichzeitig die Einzelwirtschaft.

So sehr es der deutschen Wissenschaft und dem deutschen Staats- empfinden entspricht, im Staate einen selbständigen Organismus mit eigenem Willen und eigenen Zwecken zu sehen, so sehr bleibt es unter allen Umständen irreführend, die „organische Staatsidee“ auf das Wirtschaftsleben, die „Volkswirtschaft“ zu übertragen, wie das namentlich durch Stolzmann geschieht, der seine Lehre die „sozialorganische Methode“ in der Wirtschaftswissenschaft nennt. Die tauschwirtschaftlichen Vorgänge sind eben nicht Zwecke und Wirkungen eines einheitlichen Organismus, sondern Wirkungen von Einzelzwecken, den Bedürfnissen der einzelnen Menschen, und müssen aus ihnen erklärt werden

Diese Erörterung, ob die „Volkswirtschaft“ oder der „soziale Gesamtkörper“ ein Zweckgebilde sei, trifft in Wahrheit den Kern des ganzen Problems der Objektsbestimmung in unserer Wissenschaft. Stolzmann kommt merkwürdigerweise nur gelegentlich auf ihn, in- dem er bei Gelegenheit von Spezialerörterungen und Auseinander- setzungen mit Böhm-Bawerk (Kritik des Subjektivismus S. 172) auch die Frage: Kausalität oder Teleologie? anschneidet. Er geht dabei einfach davon aus, daß die Kausalbetrachtung bei der Erklärung der wirtschaftlichen Erscheinungen versagt habe, also will er sie durch die Zweckbetrachtung ersetzen. Man könne den „Streit um die Priorität von Nutzen und Kosten“ nicht früher er- ledigen, ehe man nicht die methodische Vorfrage wegen der Priorität der Kausal- und der Zweckbetrachtung beantwortet hat. Beant- worten tut sie Stolzmann aber nur insofern, als er eben, nach langer

Jahrb. f. Nationalök. u. Stat. Bd. 106 (Dritte Folge Bd. 51). 4

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Polemik gegen den hier wieder völlig konfusen Böhm-Bawerk, die Notwendigkeit des Zweckgesichtspunktes behauptet. Er sagt u. a. S. 175: „Welcher „Zweck“ kommt für die Erklärung der sozialen Wirklichkeit in Betracht? Hier scheiden sich die Wege des „Sub- jektivismus“ und der sozialorganischen Betrachtung für immer. Jener würde dann die Zwecke eines isoliert gedachten, diese dagegen die des sozialen Individuums, als eines Gliedes der volkswirtschaft- lichen Gemeinschaft zum Ausgangspunkt haben“. Stolzmann weiß sehr gut, daß das falsch ist, daß auch der Subjektivismus nicht ein isoliert gedachtes Wirtschaftsobjekt zum Gegenstand hat, wenn auch die vermeintlichen Subjektivisten, gegen die er hauptsächlich pole- misiert, hier und da mit dem Robinson operieren. Aber eine „volks- wirtschaftliche Gemeinschaft“ gibt es nur für die Volkswirtschafts- politik, die immer national ist. „Nicht innerhalb des Rahmens der Naturgesetze heißt es dann vollzieht sich das Produzieren, Verteilen und Werten, sondern innerhalb des sozialorganischen, durch den Zweckplan der Volkswirtschaft bedingten Wertrahmens lenkt der Mensch die Naturkräfte als deren beseelter Beherrscher zu seinen Zwecken.“ „Das Individuum ist in die planmäßige Organi- sation des sozialen Körpers, seine Zwecke sind in die des letzteren eingebettet. Er kann seine Zwecke, die allerdings schließlich auf Bedürfnisbefriedigung gehen, nur auf einem Umwege (!) erreichen nämlich innerhalb des großen Planes, der ihm seine Rolle zuweist !). Alle Wertung geht zwar von Individuen aus, darin behält die Grenz- nutzenlehre und alle Theoretiker, die ihre Analyse vom subjektiven Standpunkt aus beginnen, volles Recht. Die große Frage bleibt nur, woher das Subjekt die Motive seiner Wertungen bezieht; „organisieren“ diese von sich aus die Volkswirtschaft, entnehmen die „subjektiven“ Wertschätzungen von innen her, aus den höchst- persönlichen Beziehungen der isoliert gedachten Binnenwirtschaft heraus, ihren autarkischen Ursprung, oder aber auch (!) und zwar im entscheidenden Punkte aus den Zweckbeziehungen des sozialen Gefüges, das vor ihm da ist und ihm nur die Funktion eines Gliedes übrig läßt.“ Man sieht, hier zieht sich Stolzmann schon auf ein „auch“ zurück und kann für die soziale Betrachtungs- weise nichts weiter anführen, als daß die Wertungen der einzelnen Wirtschaften sozial bedingt seien. Also Vermischung mit der Sozio- logie und völlige Verkennung der Aufgabe einer selbständigen Wirt- schaftswissenschaft, die die gesellschaftliche Bedingtheit vieler wirt- schaftlichen Erscheinungen nicht leugnet, sie in der Erklärung von Einzelheiten auch berücksichtigen kann, aber bei der Erklärung der

1) Gewiß gehört zur Aufstellung einer wissenschaftlichen Theorie und Systematik auch Phantasie. Aber zu viel davon ist von Uebel und mit dem „großen Plan“ und allen sonstigen Sozialbegriffen Stolzmanns hört das zuläßige Maß von Phantasie auf. Das muß einmal offen ausgesprochen werden, da Stolzmann jede Kritik seiner Auffassung mit einer neuen und unklaren Sozialphrase totzuschlagen sucht, statt sie sachlich zu widerlegen. Worin besteht denn der „soziale Zweckplan“ und das „soziale Gesetz‘? Darüber sagt Stolzmann nicht ein Wort!

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschatt. 51

allgemeinsten wirtschaftlichen Erscheinungen und Begriffe von ihnen abstrahieren muß.

Alles das wird nur möglich auf Grund völliger Verkennung des Wesens der Wirtschaft. So ist es natürlich ein fundamentaler Irr- tum, wenn Stolzmann meint, „daß es die ‚große Frage‘ sei, woher das Subjekt die Motive seiner Wertungen bezieht“. Alles dieses und die Frage: „Wieweit dem Individuum die Maßstäbe seiner Wertungen von außen kommen“, eine Frage, die nach Stolzmann durch die sub- jektive Theorie ungelöst bleibt, interessiert die Wirtschaftstheorie auch gar nicht, weil ihr das Objekt und die Art der individuellen Wertungen, d. h. welcher Art Güter begehrt werden, ganz gleich- gültig ist. Stolzmann muß denn auch zugeben, daß „von den In- dividuen allerdings eine kausale Wirkung ausgeht“ (S. 179), und gibt schließlich als Begründung für die Notwendigkeit der „sozio- logischen Betrachtung“ nur ein paar Phrasen: „Diese Autonomie des Individuums bleibt doch nureine formale Wahrheit, und das Indivi- duum selbst ein unbeschriebenes Blatt Papier, ein leerer Formalbe- griff), der seinen Inhalt, seine Füllung und seine Aufgabe erst aus den psychologischen und technischen Faktoren, dann (!) aber was für die Sozialökonomie entscheidet aus den sozialen Bedingungen und Aufgaben empfängt. Dem hat die Theorie nachzugehen, und ihr Programm muß darin bestehen, den wirtschaftlichen Phänomenen und ihren Gesetzen aus der sozialen Kategorie heraus näher zu kommen.“ Also, das ist die einzigste Begründung: die soziale Betrachtungs- weise ist notwendig, weil die Nationalökonomie halt eine Sozial- wissenschaft ist!

Das ist das einzige, was als Begründung der sozialen Betrach- tungsweise noch übrigbleibt, und wir kommen gleich darauf noch näher zu sprechen. Aus dieser Erörterung über den Zweck in der Volkswirtschaft ergibt sich aber, daß, wenn es verschiedene Be- trachtungsweisen in der Wirtschaftswissenschaft gibt, diese nicht privatwirtschaftliche und volkswirtschaftliche oder soziale sind, sondern essind kausale und teleologische. Das hat insbesondere Stolz- mann erkannt und mit an sich anerkennenswerter Konsequenz die Schlußfolgerung gezogen, die auch vor dem größten Widerspruch mit den zu beobachtenden Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens nicht Halt machte. Da nach seiner Meinung die kausale Betrachtungsweise ver- sagt hat was aber, wie wir wissen, nicht die Folge der Kausalbe- trachtung, sondern einer falschen, materialistischen Auffassung des Erkenntnisobjekts ist versucht er es mit der teleologischen. Dazu muĝ er die „Volkswirtschaft“, den „sozialen Gesamtkörper“, als ein „soziales Zweckgebilde“ auffassen. Daher die schönen Redensarten von dem „großen Plan“, der dem einzelnen „seine Rolle zuweist“, von der „volkswirtschaftlichen Gemeinschaft“, dem „sozialen Körper“, in

1) Das soll ja auch so sein, weil unsere individualistische Theorie eben in Wirk- lichkeit viel sozialer ist, wirklich die tauschwirtschaftlichen Vorgänge und nicht den einzelnen Menschen betrachtet, daher wohl homines oeconomici, aber nicht einen Robinson zugrunde legt.

4*

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„dessen Zwecke die des einzelnen eingebettet sind“ usw. Daß diese Zwecke nicht existieren, darf sich Stolzmann nicht ausreden lassen, obgleich er selbst unmöglich an sie glauben kann und es schließlich für eine Wissenschaft ja nicht auf den Glauben, sondern auf den Nachweis ihrer Existenz ankommt, der von Stolzmann auch nicht einmal versucht ist.

Der soziale Zweckgedanke ist es auch, der unklar zugrunde liegt, wenn man heute vielfach glaubt, zur Erklärung der wirtschaftlichen Erscheinungen etwas beitragen zu können, indem man sie als „ge- sellschaftliche Funktion“ auffaßt (Hilferding u. a). Insbesondere durch die „mathematische“ Nationalökonomie ist es neuerdings viel- fach üblich geworden, diesen Ausdruck zu gebrauchen, der nichts weiter als Beziehung bedeutet und daher logisch durchaus unklar ist. Die logische Kategorie ist Zweck und Mittel, an sie denkt man, wenn man die Einzelwirtschaft als dienendes Glied, als Funktionär gesellschaftlicher Zwecke bezeichnet. Es gibt aber keinen gesellschaftlichen Zweck im Wirtschaftsleben, ebensowenig wie es einen gesellschaftlichen Willen in ihm gibt. Wohin die Auffassung vom „gesellschaftlichen Zweck“ und der Funktion der Einzelwirt- schaft führt, ersieht man wieder deutlich aus Stolzmann, der auch hier vor den letzten Konsequenzen seines Zweckgedankens in der Volkswirtschaft nicht zurückscheut. Er sagt in einer Polemik gegen allerdings ebenso falsche und nichtssagende Phrasen Böhm-Bawerks (Kritik des Subjektivismus, S. 164): „Will man den Händler mit einem Geschäftsführer ohne Auftrag vergleichen, so kann er es nur in höherem Sinne, der den Funktionen des Handels mehr gerecht wird, sein, im Sinne eines Beauftragten im sozialen Auftrage(!), er ist der richtig kalkulierende Exekutor des objektiv sozialen Wirt- schaftsplans . . .!“ „Die Volkswirtschaft schließt Stolzmann seine schon die Erfahrungen des Krieges berücksichtigende Abhandlung ist in Krieg und Frieden ein ethisches Zweckgebilde“. Welch eine Verstiegenheit der Ansichten! Gehört der Opiumhandel Eng- lands, der Munitionshandel Amerikas im Kriege nicht auch zur „Volkswirtschaft“ ?

Wir müssen allen diesen Konstruktionen vom sozialen und ethi- schen Zweckgebilde gegenüber an der Erfahrungstatsache festhalten, daß Zwecke im Wirtschaftsleben nur die einzelnen Wirtschaften ver- folgen, nämlich nach größter Bedarfsbefriedigung, und daß aus diesem Zwecke der tauschwirtschaftliche Mechanismus erklärt werden muß. Die Vertreter jener Anschauung verkennen, daß, wenn die „Volkswirt- schaft“, „Sozialwirtschaft“, der „soziale Gesamtkörper“ eine „Arbeits- gemeinschaft“, überhaupt ein einheitliches „Zweckgebilde“ wäre, sie eben nur eine Wirtschaft sein könnte. Das ist sie aber nicht. Und wenn v. Schulze-Gävernitz (s. unten Kap. III, 3) sich zu der Be- hauptung versteigt: „Nur die Volkswirtschaft ist Wirtschaft, Wirtschaft im engeren Sinne“!, so zeigt das, zu welchen mit allen Tatsachen im Widerspruch stehenden Behauptungen die Vertreter der sozio- logischen Richtungen sich schließlich gedrängt sehen. Nur In-

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dividuen wirtschaften, einzeln oder mehrere gemeinsam in den Ge- sellschaftsunternehmungen, und wer diese fundamentale Tatsache schon verkennt, der wird natürlich nie die Erscheinungen des Tauschver- kehrs erklären können.

Die „soziale Betrachtungsweise“ ist wertlos, solange sie nur als eine Forderung von Methodologen vertreten wird, die an die Aus- führung eines theoretischen Systems auf dieser Grundlage nicht denken. Sie ist lächerlich, wenn die ihr folgende positive Theorie geradeso „individualistisch-atomistisch“ ist wie die bisherigen. Sie hätte eine gewisse Berechtigung, wenn es ihr gelänge, die tausch- wirtschaftliche gegenseitige Bedingtheit aller Preise und Einkommen gegenüber dem Versagen der bisherigen Theorien aufzuzeigen, was aber auch Stolzmann nicht gelungen ist. Sie muß aber verschwinden, wenn es gelingt, die alte Aufgabe zu lösen und die tauschwirtschaft- lichen Erscheinungen auf ihre letzte Ursache, die individuellen Be- dürfnisse zurückzuführen, sie gleichzeitig aber auch in ihrem gegen- sitigen Bedingtsein zu erklären. Das ist bisher daran gescheitert, daB man hinter dem Geldschleier Vorgänge der Produktion statt psychische Erwägungen gesehen hat.

4. Die Einheit des Objekts der Wirtschaftswissenschaft.

Nach dieser Darstellung und Kritik der Hauptvertreter einer sozialen Betrachtungsweise glauben wir über sie und ihren behaupteten Gegensatz, die individualistische oder privatwirtschaftliche Betrach- tungsweise, zur Klarheit und zu einem abschließenden Urteil ge- langen zu können. Die hergebrachte Betrachtungsweise war die in- dividualistische. Man sah, daß es die einzelnen Menschen sind, die wirtschaften, und suchte ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Menschen im Wege einer isolierenden Abstraktion zu er- fassen. Dabei brachte es das Streben nach dem Phantom Wert und der Glaube, einen allgemeinen Bestimmungsgrund des Güterwerts feststellen zu können, mit sich, daß man in der Abstraktion vielfach zu weit ging und besonders die Gelderscheinungen des Tausches, die Preise und die Geldeinkommen, glaubte aus den bloßen Be- ziehungen zweier Tauschenden erklären zu können.

Neuere Nationalökonomen haben dann, ohne übrigens jenen Fehler wirklich zu erkennen, das Unbefriedigende der bisherigen Theorien empfunden und haben, teils durch die Volkswirtschaftspolitik, teils durch die Rechtswissenschaft, teils durch die neu aufkommende Soziologie verleitet, geglaubt, die Erscheinungen des Tauschverkehrs ganz anders auffassen zu müssen, als einen einheitlichen Organismus, eine „Volks“- oder „Gesamtwirtschaft“, einen „sozialen Gesamt- körper“, oder wie alle diese Sozialbegriffe heißen, mit denen sie den Gegenstand ihrer Betrachtung zu bezeichnen versuchten.

Die individualistische Betrachtungsweise hat demgegenüber von vornherein den großen Vorzug, daß sie alles, was das tägliche Leben unzweifelhaft als Wirtschaft und als wirtschaftliche Erscheinungen

54 Robert Liefmann,

ansieht, einheitlich erfaßt. Ihr Objekt sind nicht nur die Er- scheinungen des Tauschverkehrs, die Beziehungen zwischen Einzelnen, sondern auch die Vorgänge innerhalb der Einzelwirtschaft selbst. Das entspricht zweifellos der allgemeinen Erfahrung des täglichen Lebens, welche beobachtet, daß die Vorgänge bei einer nicht in den Tauschverkehr verflochtenen Wirtschaft und bei den tauschwirt- schaftlichen Beziehungen doch sehr vielfach die gleichen sind, und die schon selbst den Versuch macht, sie mit den Begriffen Wirt- schaft und wirtschaftlich als etwas Einheitliches zu erfassen.

Allerdings ist diese individualistische Betrachtungsweise bisher nie konsequent festgehalten worden, und daß das nicht geschehen ist, ist letzten Endes wieder die Folge der technisch-mate- rialistischen Auffasssung der Wirtschaft und der auf ihrer Grundlage hergebrachten Problemstellungen. Daher ist z. B. der heutige Wertbegriff, der Grundbegriff der ökonomischen Theorie nach der bisherigen individualistischen Betrachtungsweise, zwar etwas sub- jektiver als der Wertbegriff der Klassiker, aber der durch den Grenz- nutzen bestimmte wirtschaftliche Wert ist keineswegs rein sub- jektiv und individualistisch, sondern ein Gemisch von Nutzen und Seltenheit. Eine wirklich individualistische Betrachtung hätte nicht vom Wert, sondern von rein subjektivem Nutzen, Genuß auszugehen. Damit wäre man aber, konsequent festgehalten, zu einer psychischen Auffassung der Wirtschaft gekommen und das paßte nicht in die überlieferte technisch-materialistische „Güterlehre“. Der einzigste Versuch, wirklich an den subjektiven Nutzen, den Genuß anzuknüpfen, Gossens, scheiterte an dem Mangel des entsprechenden Kostenbegriffs, und seitdem ist niemand mehr kühn genug gewesen, den ganzen technisch-materialistischen Inhalt der bisherigen Theorien über Bord zu werfen.

Andererseits wurde von allen bisherigen Theorien die indivi- dualistische Betrachtungsweise gewaltig übertrieben, vor allem in der Preistheorie, wo man von Smith bis zur heutigen Grenz- nutzenlehre glaubte, den Preis, also einen Geldausdruck, aus den subjektiven Wertschätzungen der zwei Tauschenden für die beider- seitigen Tauschgüter und für das materielle Tauschmittel erklären zu können, eine Naivität sondergleichen, die allein schon genügte, der Grenznutzenlehre ihren Anspruch zu nehmen, einen Fortschritt in der Wirtschaftstheorie herbeigeführt zu haben. An diesen un- erhörten Fehler knüpfen auch die neusten und einsichtigsten Vertreter der sozialen Betrachtungsweise vor allem an.

Dann aber ist es wieder äußerst charakteristisch, daß alle bisherigen Theorien ihre individualistische Betrachtungsweise, wenig- stens teilweise, aufgeben, wenn es sich um die Einkommens- bildung handelt. Denn hier wird nie vom Individuum aus- gegangen und die Einkommensbildung nicht durch die Preisbildung erklärt, sondern von der Gesamtheit, der Volkswirtschaft. Hier herrscht die „Verteilungslehre“, wonach ein „Volkseinkommen“, die Gesamtheit der in der „Volkswirtschaft“ hergestellten Produkte,

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verteilt wird. Wir wissen, daß diese Lehre auf den alten wirt- schaftspolitischen Ursprung unserer Wissenschaft, das Streben nach dem Volksreichtum, zurückgeht. Daß man aber immer daran festhielt, hat, wie wir ebenfalls schon betonten, in der technisch- materialistischen Auffassung seinen Grund, die eben den Geld- einkommen gegenüber versagen mußte und nur in Form der Verteilung einer Gütermenge durchführbar war. Aber trotz dieses „sozialen“ Ausgangspunktes von einem Gesamteinkommen, Volkseinkommen, ` das verteilt wird, ist die Erklärung der Einkommensbildung dann doch mehr oder weniger individualistisch. Jeder erhält nämlich sein Einkommen (wobei Geld- oder Gütermenge durcheinander gehen) auf Grund einer Zurechnung für die Mitwirkung seiner spe- ziellen Produktionsfaktoren an der Beschaffung des Pro- duktes oder seines „Wertes“ (der regelmäßig in der Geldsumme, die das Einkommen darstellt, ausgedrückt sein soll).

So ist jedenfalls alle bisherige Theorie schon ein Gemisch individualistischer und sozialer Betrachtungsweise, und die letztere taucht insbesondere überall da auf, wo die erstere infolge der materialistischen Auffassung doch gar zu deutlich versagt. Da erscheint dann plötzlich neben den üblichen individualistischen, d. h. regelmäßig materialistischen, Begriffen ein „volkswirtschaftlicher“, z. B. „Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne“, „National- oder Sozialkapital“, „Volkseinkommen“, „gesellschaftliche Arbeit“, „soziale Produktion“ usw., kurz alle die beliebten Verbindungen mit „sozial“, die immer beweisen, daß die bisherige Theorie am Ende ihrer Wissen- schaft angelangt ist. Diese „volkswirtschaftlichen“ Begriffe sind nach unserer Auffassung überhaupt erst die wirtschaftlichen, während, was die bisherige materialistische Auffassung wirtschaftliche Begriffe und wirtschaftliche Kategorie nennt, einfach Technik ist. So ist z. B. die sogenannte „ökonomische Kategorie“ bei Wagner, Stolzmann u. a. nichts anderes als eine technische Kategorie, während ihre „soziale Kategorie“ erst die nach unserer Auffassung eigentlich wirtschaftlichen Momente enthält, sie aber auch nicht richtig auffaßt und ihnen noch rechtliche Gesichtspunkte aufpfropft, die mit dem Wesen des Wirtschaftlichen nichts zu tun haben. Infolgedessen ist es sehr begreiflich, daß die „soziale Be- trachtungsweise“ jene „ökonomische Kategorie“ ganz auszuschalten sucht. Da sie aber nicht erkennt, daß sie nur eine technische ist und da sie von der technisch-materialistischen Auffassung des Wirtschaftlichen nicht loskommen kann, war es naheliegend, das Wesen der Volkswirtschaftslehre mehr im Sozialen als im Oeko- nomischen zu sehen.

Man kann aber mit gutem Grund daran zweifeln, ob es richtig war, das wirtschaftliche Erfahrungsobjekt in erster Linie durch das unklare Moment des Sozialen zu bestimmen und das falsch, mate- rialistisch aufgefaßte Wirtschaftliche nur zur engeren Abgrenzung eines Teils aus dem weiten Gebiet des Sozialen heranzuziehen. Es ist auch gar nicht einzusehen, weshalb ein rein technisches Moment,

56 Robert Liefmann,

Ueberwindung der Abhängigkeit von den Gegenständen der äußeren Natur, gerade verschiedene Sozialwissenschaften voneinander ab- grenzen soll, da dieses technische Moment doch auch unzweifelhaft schon isoliert wirtschaftende Menschen beschäftigt, während an- dererseits die „sozialen“ Wirtschaftsvorgänge, die Tauschvorgänge, oft mit Sachgüterbeschaffung gar nichts zu tun haben. Es liegt daher nahe, anzunehmen, daß man das Auswahlprinzip, daß die Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft von anderen Sozial- wissenschaften unterscheiden soll, falsch aufgefaßt habe. Und wenn man nun zeigen kann, daß man mit einer richtigen Erkenntnis des Wirtschaftlichen die Auffassung der Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft gar nicht gebraucht, sondern mit einem einheit- lichen Identitätsprinzip der ganzen Wirtschaftswissenschaft die Tauschverkehrsvorgänge sehr viel „sozialer“ erklären kann, als die soziale Betrachtungsweise das vermochte, so ist zum mindesten die Ueberflüssigkeit aller dieser künstlichen Konstruktionen dargetan.

Aus den Erörterungen des vorigen Kapitels ergibt sich nun schon, daß, wenn es diesem einheitlichen Objekt der Wirtschafts- wissenschaft gegenüber verschiedene Betrachtungsweisen gibt, sie nur in Hinsicht auf den Zweck der Wirtschaft geschehen können. Daher ziehen denn auch Stolzmann und Stammler, die überhaupt in diese Dinge viel tiefer eingedrungen sind als die meisten philosophierenden Nationalökonomen, mit Recht den Schluß, daß die Auffassung eines sozialen Objektes der Wirtschaftswissen- schaft nur bei teleologischer Betrachtungsweise möglich ist. Wir haben aber schon betont und kommen unten noch darauf zu- rück, daß bei unserer Auffassung des Wirtschaftlichen eine teleo- logische Betrachtungsweise vollkommen entfällt. Denn Wirtschaften ist zwar ein Zweckstreben, aber dieser Zweck ist ein einheitlicher, höchste Bedarfsbefriedigung; er wird als gegeben vorausgesetzt, sein Inhalt geht die Wirtschaftswissenschaft nichts an. Sondern diese be- trachtet rein kausal die Wirkungen der als gegeben angenommenen Zwecke in der Struktur der Einzelwirtschaften und insbesondere in ihren tauschwirtschaftlichen Beziehungen, betrachtet also die grund- legenden wirtschaftlichen Vorgänge als Wirkungen des allgemeinen Zweckes aller Einzelwirtschaften, des Strebens nach möglichst voll- kommener Bedarfsbefriedigung.

Nun gibt es aber, wie jedermann durch Beobachtung weiß, neben diesem wirtschaftlichen Zwecke der Einzelwirtschaften, aus denen der tauschwirtschaftliche Mechanismus erklärt werden muß, noch andere Zwecke, die im Wirtschaftsleben eine große Rolle spielen. Das sind die Zwecke des Staates, die in vieler Hinsicht auf die wirt- schaftlichen Vorgänge einwirken. Der Staat ist eine Organisation mit eigenen Zwecken, die von denen seiner Untertanen verschieden sind. Auf nähere Bestimmung des Charakters dieser Organisation kommt es hier nicht an. Sofern diese Zwecke des Staates wirt- schaftlich sind, d. h. in wirtschaftlicher Weise verfolgt werden, ist der Staat auch eine Wirtschaft und hat als solche einen

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 57

bestimmten Namen, Fiskus. Auch die Bedürfnisse des Staates sind weit überwiegend immaterieller Natur!), man darf hier ebensowenig wie bei der privaten Wirtschaft bei der bloßen Erzielung eines Geldeinkommens stehenbleiben. Wir werden im Kapitel über die Aufgaben der Wirtschaftswissenschaft noch näher über die Wirt- schaft des Staates und ihre Besonderheiten und die Spezialwissen- schaft, die sich damit beschäftigt, zu sprechen haben.

Aber neben seinen wirtschaftlichen Zwecken hat der Staat noch sonstige Zwecke, die vielfach in das Wirtschaftsleben eingreifen. Die Verfolgung aller Staatszwecke nennt man Politik, und soweit sie in das Wirtschaftsleben eingreifen, spricht man von Wirt- schaftspolitik. Die Finanzwissenschaft, soweit sie die staatlichen Maßregeln betrachtet, die in die wirtschaftlichen Verhältnisse der privaten Wirtschaftssubjekte eingreifen, ist daher gleichzeitig auch Wirtschaftspolitik. Die Wirtschaftspolitik ist nun ein Zweig der Politik als Lehre von den Zwecken des Staates, insofern sie aber Wirkungen auf die wirtschaftlichen Vorgänge und Beziehungen der Einzelwirtschaften ausübt, kann sie auch in der Wirtschafts- wissenschaft behandelt werden. Und soweit sich über diese Wir- kungen selbständige allgemeine Sätze aufstellen lassen, kann sie auch als eine Teilwissenschaft der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft angesehen werden.

Die Politik des Staates hat nun heute den größten Einfluß auf alle wirtschaftlichen Verhältnisse, und ihre engere Beziehung zur Wirtschaftswissenschaft ist der Hauptgrund, weshalb die soziale Betrachtungsweise viele Anhänger findet und ihre extremsten Ver- treter sogar so weit gehen, außerhalb der staatlichen Regelung überhaupt kein Objekt der ökonomischen Wissenschaft anzuerkennen.

Hier nun, mit der Einführung des Staates, erhalten wir in der Tat einen eigenen, von den Zwecken der Einzelwirtschaften ver- schiedenen Zweck. Aber der Tauschverkehr selbst, die wirtschaftlichen Beziehungen der Einzelwirtschaften sind nicht selbst wieder eine Wirtschaft und haben daher auch keinen eigenen wirtschaftlichen Zweck; und auch wenn man sich die Wirtschaften eines Staates als eine Einheit darstellt, so ist das keine wirtschaftliche Einheit, sondern höchstens eine wirtschaftspolitische, eine staatliche. Die sogenannte „Volkswirtschaft“ ist als wirtschaftlicher Organis- mus nicht von den über ein Volk hinausreichenden wirtschaftlichen Beziehungen verschieden, sie ist eine Einheit nur unter dem Be- griff des Staates, also vom Standpunkt der Wirtschaftspolitik.

Das ist eigentlich selbstverständlich, aber schon immer war, in- folge der geschichtlichen Entwicklung der Nationalökonomie und ihrer engen Beziehungen zur Wirtschaftspolitik, die Neigung vor- handen, in der „Volkswirtschaft“, d. h. im Tauschverkehr innerhalb

1) Hier ist wieder ein Punkt, wo die herrschende materialistische Auffassung des Wirtschaftlichen zu einer ganz falschen Auffassung der Wirtschaft des Staates ver- leiten würde.

58 Robert Liefmann,

eines Staates, eine eigene Wirtschaft, ein ‚einheitl liches Zweckgebilde zu sehen. Das war, wie wir Jetzt wissen, nur

Und damit haben wir nun auch die Lösung der Frage nach ver- schiedenen „Betrachtungsweisen“ in der ökonomischen Wissenschaft

den beiden Zwecken der Produzenten und Konsumenten steht“ { (Stolzmann a. a. O. $. 183), existiert also höchstens für die Wirt-

1) Inwieweit man noch von einem Gesamtinteresse aller Einzelwirtschaften, näm- lich an der zweckmäßigsten Organisation des Tauschverkehrs reden kann, das kann erst nach der Darstellung unseres ganzen theoretischen Systems im Anschluß an das Produktivitätsproblem erörtert werden; s, darüber einstweilen meinen Aufsatz: Grund- lagen einer ökonomischen Produktivitätstheorie in diesen Jahrbüchern Bd. 98, S. 273 fg.

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 59

schaftspolitik, weil es hier im Staate einen eigenen Willensträger gibt, dessen Zwecke auch in wirtschaftlicher Hinsicht von denen seiner Untertanen verschieden sein können. Aber auch die Zwecke des Staates als Träger der Volkswirtschaftspolitik sind deswegen wirtschaftlich kein „Zweck höherer Ordnung“, keine „organischen Zwecke der Volkswirtschaft“, wie der Zweckphantast Stolzmann meint. Der Zweck der „Volkswirtschaft“ ist auch kein anderer als der der Einzelwirtschaften, nämlich Bedarfsbefriedigung, aber nicht etwa Bedarfsbefriedigung des „Volkes“, sondern auch wieder nur Bedarfsbefriedigung der Einzelwirtschaften. Anders ausgedrückt: der Tauschverkehr ist kein Gebilde mit eigenem „sozialen“ Zweck, er ist nicht das Ergebnis eines „großen Zweckplans“, „der dem Einzelnen seine Rolle zuweist“, die alle nur „dienende Glieder“ der „sozialen Gesamtwirtschaft“ sind. Sondern er entsteht gewisser- maßen naturgesetzlich, nicht als bewußte „Schöpfung“ aus den formal gleichartigen, aber in ihrem Inhalt ganz verschiedenen, nicht gleich- gerichteten, sondern einander widerstreitenden Zwecken der Individuen. Natürlich können sich die Individuen auch zu Vereinigungen ver- schiedener Art zusammenschließen und auch gemeinsame Wirtschaften bilden, aber deren Zweck ist dann doch immer wieder Bedarfs- befriedigung der Einzelnen.

„Betrachtungsweise“ ist also immer Zweckbetrachtung und die sogenannte volkswirtschaftliche Betrachtungsweise ist, da es einen eigenen Zweck des Tauschverkehrs, der Volkswirtschaft in diesem Sinne nicht gibt, Zweckbetrachtung vom Standpunkte des Staates, der mit seinen Zwecken weitreichend das Wirtschaftsleben beein- flußt. Und die ‚soziale‘ Betrachtungsweise ist, wie man jetzt wohl klar erkennen wird, nichts anderes als der Versuch, zu dem die materialistische Auffassung der Wirtschaft zwang, nun doch mit allen Mitteln ein besonderes, von den Einzelwirtschaften verschiedenes „soziales“ Zwecksubjekt zu schaffen. Das ist unmöglich, beruht auf unklaren Begriffen, widerspricht dem Erfahrungsobjekt und wird bei richtiger Auffassung des Wirtschaftlichen auch als ganz unnötig zur Erklärung der tauschwirtschaftlichen Erscheinungen erwiesen.

Durchaus zutreffend und sehr charakteristisch sind die Aus- führungen von J. Pesch zu diesen Fragen, die deutlich zeigen, was die sozialen Richtungen wollen (Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 3, Einleitung, S. 6—7). Pesch erkennt, daß der Tauschverkehr, das „Oekonomische“ keinen einheitlichen Zweckorganismus bildet; er erblickt das Soziale, das ihm so wichtig ist, daß er das Oeko- nomische darüber ganz zurücktreten lassen will, vor allem im Staate, in der Wirtschaft eines staatlich geeinten Volkes. Er sagt: „Nennt man die entsprechende Gesellschaftswirtschaft ‚So zialökonomie‘, so wird zwar damit der quasi verkehrslose Zustand geleugnet, die dadurch bezeichnete Verkehrswirtschaft oder entwickelte Marktwirt- schaft aber kann gleichwohl als bloßer Summenbegriff einer Vielheit sich berührender Wirtschaften ganz und gar individualistisch auf-

60 Robert Liefmann,

gefaßt werden. Es handelt sich dann bei einer solchen ‚Gesell- schaftswirtschaft‘ nicht um soziale Aufgaben, die aus einer sozialen Gemeinschaft herauswachsen, um keinen sozialen Zweck, der zu der Aufgabe, dem Zweck der staatlichen Gesell- schaft in Beziehung stände oder von demselben sich herleitete ... Eine von den Gedanken der allen Gliedern der staatlichen Gesell- schaft gemeinsamen Wohlfahrt beherrschte Ordnung des Wirt- schaftslebens jedoch bleibt der Sozialökonomie in jenem rein ver- kehrs wirtschaftlichen Sinne völlig fremd. Der Gesichtspunkt, unter welchem die Wirtschaftswissenschaft solche ‚Gesellschaftswirtschaft‘ betrachtet, wäre dann ein ‚ökonomischer‘, die Rücksicht der Wirt- schaftlichkeit, des ökonomischen Prinzips: Beschaffung der Güter mit möglichst geringem Aufwande, Verwaltung derselben zum mög- lichst großen Erfolg einer Bedürfnissättigung u. dgl. Gewinnung und Verteilung der Güter aber blieben dabei lediglich wirtschaftliche ‚Phänomene‘, kein volkswirtschaftliches praktisches ‚Problem‘, das vom Standpunkt der allgemeinen Wohlfahrt einer staatlich geeinten Volks- wirtschaft aus theoretisch zu beurteilen wäre. Kurz, wir können in einer solchen ‚Sozialökonomie‘ recht viel erfahren von den Gütern, wie diese ‚ökonomisch‘ erzeugt, verwaltet, verwendet werden, und wie jeder sich im freien Wettkampf einen Teil dieser Güter anzueignen sucht. Von der Wohlfahrt des ‚Volkes’ aber hören wir da wenig oder nichts.“

Darauf ist zu sagen: Wir sind eben als Theoretiker so be- scheiden, nur Phänomene erklären zu wollen, wir wollen in der ökonomischen Theorie nicht „soziale Aufgaben“ lösen und kein Re- zept für die „Wohlfahrt des Volkes“ aufstellen. Wir begnügen uns mit der Untersuchung des „Oekonomischen*, weil wir glauben, daß es auf diesem Gebiete noch genug zu tun gibt. Wir fassen es aber nicht so materialistisch wie die bisherige Theorie und können des- wegen auch immaterielle Güter, deren Berücksichtigung in der Sozial- ökonomik Pesch, teilweise mit Recht, vermißt, insoweit sich wirt- schaftliche Erwägungen an sie knüpfen, in den Kreis unserer Be- trachtungen hineinziehen. Wir glauben aber, daß, wenn es überhaupt Aufgabe einer Wissenschaft sein kann, „volkswirtschaftlich-praktische Probleme vom Standpunkt der allgemeinen Wohlfahrt aus zu beur- teilen“ und das ist nur bei kausaler Betrachtung der Fall -— es nur möglich ist nach richtiger Erkenntnis des „Oekonomischen“, der Verkehrswirtschaft. Es scheint mir recht anmaßend, soziale Auf- gaben hinsichtlich der Wohlfahrt des Volkes in einer Wissenschaft erörtern zu wollen, deren grundlegende Erscheinungen noch so wenig geklärt sind, in der, um nur ein Beispiel anzuführen, über die Preis- bildung und die Einkommen, z. B. den Kapitalzins, die lächerlichsten Kontroversen bestehen. Wir halten es für wissenschaftlich höchst bedenklich, wenn Ethiker und Politiker einer in einem solchen Zu- stand befindlichen, noch nicht einmal über ihr Objekt zur Klarheit gekommenen Wissenschaft die schwierigsten Probleme des Seinsollens

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe aer Wirtschaftswissenschaft. 61

als Aufgabe zuweisen und die Soziologen sie mit der Aufdeckung aller möglichen gesellschaftlichen Beziehungen belasten wollen. Damit fördert man nur den wissenschaftlichen Dilettantismus und die Be- nutzung der Wissenschaft mit ihren noch so wenig gesicherten Er- gebnissen zu politischen Zwecken. Am schlimmsten ist es aber, wenn diejenigen, die die undankbare Aufgabe auf sich nehmen, öko- nomische Theorie zu treiben, und versuchen, ein Jahrhundert alte Probleme zu lösen und dadurch eine längst existierende Wissenschaft aus ihrem gegenwärtigen trostlosen Zustand herauszubringen, von Politikern und Soziologen noch angegriffen werden, weil ihre Theorie nicht alles erkläre, was diese in ihrer Unklarheit über Inhalt und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft an politischen und gesellschaft- lichen Problemen mit ihr vermengen.

Wir behaupten also, daß wir mit dem lIdentitätsprinzip des Wirtschaftlichen, so wie wir es auffassen, als etwas Psychisches, eine Gegenüberstellung von Nutzen und Kosten, ein einheitliches Erkenntnisobjekt der gesamten Wirt- schaftswissenschaft und aller ihrer Zweige abgrenzen, welches dem Erfahrungsobjekt, das man als wirtschaftliche Erscheinungen bezeichnet, vollkommen kongruent ist und alle regelmäßig als wirt- schaftlich bezeichneten Probleme umfaßt. Der allgemeinste Begriff, an den sich das so bestimmte Adjektivum wirtschaftlich anknüpft, sind die wirtschaftlichen Erwägungen. Wirtschaftliche Hand- lungen sind dann diejenigen, die unter dem Einfluß solcher Erwägungen erfolgen, wirtschaftliche Beziehungen, Ein- richtungen und Veranstaltungen die, welche auf Grund solcher wirtschaftlichen Erwägungen und Handlungen entstehen. Sie aus den wirtschaftlichen Erwägungen, bzw. noch weiter zurückgehend, aus den Bedarfsempfindungen, jedoch ohne Eingehen auf deren Inhalt, abzuleiten, ist die Aufgabe der Wirtschafts- theorie.

Man erkennt, daß auf diese Abgrenzung des Objekts der Wirt- schaftswissenschaft der bisher als fundamental angesehene Gegensatz von individualistischer und sozialer Betrachtungsweise nicht paßt. Unsere Theorie zeigt die gegenseitige Verknüpfung aller Einzelwirt- schaften im Tauschverkehr sehr viel klarer als jede Bestimmung eines sozialen Objekts, aber sie zeigt natürlich nur die wirtschaft- liche Verknüpfung und nicht die gesellschaftlichen Beziehungen, welche durch Sitte, staatliche Zusammengehörigkeit, Besonderheiten der Rechtsordnung herbeigeführt werden können. Doch kann man, wenn man einmal die wirtschaftlichen Grundlagen des Tausch- verkehrs, das Wesen des tauschwirtschaftlichen Mechanismus richtig erkannt hat, auch die Berücksichtigung aller dieser nichtwirtschaft- lichen Momente noch heranziehen und die Einflüsse untersuchen, die von ihnen in einzelnen Fällen auf die Preisbildung, die Ein- kommensbildung usw. ausgehen. Das werden aber immer spezielle Erscheinungen sein; gesellschaftliche Einflüsse beeinflussen den Preis

62 Robert Liefmann,

einzelner Güter sehr verschieden, in Deutschland wieder anders als in Amerika oder China, usw. Mit der allgemeinen Aufgabe der Wirtschaftstheorie, den tauschwirtschaftlichen Organismus zu er-

einheitliche Wirtschaftswissenschaft auf Grund eines einheitlichen Identitätsprinzips ermöglichen. Aber wir sahen, daß auch nach der ersteren zahlreiche zweifellos als Wirtschaftlich bezeichnete Erschei-

sellschaftlichen Problemen abgrenzt.

Mit dem Gesagten glaube ich das Objekt der Wirtschafts- wissenschaft eindeutig festgestellt, d. h. das althergebrachte Objekt, die tauschwirtschaftlichen Beziehungen, ihre Einrichtungen und Veranstaltungen, wenn auch deren Wesen anders aufgefaßt, gegen

kennen vielmehr, daß diese Verwechslung, die Materialistisch-tech- nische Auffassung der Wirtschaft überhaupt nur das Streben nach einem sozialen Objekt veranlaßt hat. Wir brauchen die dazu nötigen künstlichen Konstruktionen, die aus dem Tauschverkehr, aus bloßen Beziehungen yon Einzelnen, einen „sozialen Organismus“, eine „Gesamtwirtschaft“, kurzum, ein einheitliches Zweckgebilde machen wollen und die sich damit von einem klaren Einblick in die wirtschaftlichen Erscheinungen vollständig entfernen, nicht mit- zumachen und vermögen trotzdem die durch das Geld herbeigeführte

Ueber Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft. 63

enge „soziale“ Verflechtung aller im Tauschverkehr stehenden Ein- zelwirtschaften, den Zusammenhang aller Preise und Einkommen sehr viel deutlicher zu zeigen und aus den individuellen Bedarfsempfindun- gen zu erklären, als das den Vertretern irgendeiner Theorie bisher möglich war. Wir behalten dabei zugleich die Einheit alles Wirt- schaftlichen bei und bewirken, daß unser Erkenntnisobjekt sehr viel mehr mit dem als wirtschaftliches Erfahrungsobjekt bekannten Problemkomplexe übereinstimmt, als das bei jeder anderen Theorie, insbesondere der sogenannten sozialen Betrachtungsweise der Fall war. Mit dieser Festlegung des Objekts der Wirtschaftswissenschaft haben wir nun auch schon den Grund gewonnen für weitere Er- örterungen über das Wesen der Wirtschaftswissenschaft überhaupt und über die Aufgaben, die sie zu erfüllen hat. Davon im zweiten

Aufsatze.

(Der zweite Teil dieses Aufsatzes folgt im Februar-Heft.)

64 Arthur Dix,

II.

| Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten, ERT

Inhalt: I. Einleitung. II. Der Agrarstaat Bulgarien. III. Bulgariens Industrie, Handel und Verkehr. IV. Finanzen und Ausblicke.

I. Einleitung.

Die Rührigkeit und Zielsicherheit, die Bulgarien während des ersten Balkankri i i A i `

das Ausbreitungstempo wollen hier eben mit nicht gewöhnlichen

rungen ebensowenig berücksichtigt, wie die mit ihnen gewonnene Verbindung zum Weltmarkt durch die nunmehr bulgarischen Küsten- orte am Aegäischen Meer.

Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. 65

Das letzte Jahr, in dem das bulgarische Wirtschaftsleben sich normal entwickeln konnte, war das Jahr 1911. Die auch noch für 1912 vollständig vorliegende bulgarische Statistik kann naturgemäß für Vergleichszwecke nur sehr bedingt benutzt werden, da die Bal- kankriege anormale Verhältnisse schufen. Weiter erstreckt sich die für den Zeitraum eines ganzen Jahres abgeschlossene bulgarische Statistik nicht, so daß der Oeffentlichkeit bisher für Neu-Bulgarien keine amtlichen Ausweise zur Verfügung stehen. [Im folgenden ent- stammen die statistischen Angaben, soweit nichts anderes vermerkt, dem bulgarischen Statistischen Jahrbuch für 1912!),] Dem Verf. standen jedoch durch die Freundlichkeit des Generaldirektors der Statistik, Herrn Kir. G. Popoff, und des Universitätsprofessors Ge- orges Th. Danaillow während eines längeren Studienaufenthalts in Sofia weitere Auskünfte und Aufklärungen reichlich zu Gebote, wo- für auch an dieser Stelle diesen Herren ebenso der herzliche Dank abgestattet sei, wie den Herren Konsul Graf v. Podewils und Di- rektor Glum.

Eine Betrachtung des bulgarischen Wirtschaftslebens und seiner Entwicklung während des letzten Menschenalters ist von ganz eigenem Reiz, weil innerhalb dieser kurzen Zeitspanne sozusagen ein vollständiger Neubau aufgerichtet ist und sich an diesem Bau Schul- beispiele ökonomischer Gesetze studieren lassen. Die „Befreiung“, wie man in Bulgarien kurzweg die Aufrichtung des Fürstentums Bulgarien und das Ende der türkischen Herrschaft nennt, hat auch wirtschaftlich von Grund auf neue Verhältnisse entstehen lassen und eine so gründliche ökonomische Revolution gezeitigt, daß in ge- wissen Beziehungen die Dinge gegenüber der früheren Zeit geradezu auf den Kopf gestellt erscheinen.

Um das Wesentlichste mit einem Wort kurz vorwegzunehmen: Bulgarien ist aus einem Lande blühenden städtischen Handwerks zu einem blühenden Agrarstaat mit stagnie- rendem Leben der Städte geworden. Es steht nunmehr vielleicht vor einer Periode des Ausgleichs zwischen fortdauerndem Aufschwung der bulgarischen Landwirtschaft und neuer Entwicklung der städti- schen Gewerbe.

II. Der Agrarstaat Bulgarien.

Bei einer Einwohnerzahl (1910) von 4,34 Millionen Köpfe auf 96000 Quadratkilometer Bodenfläche ist Bulgarien ein Agrarland, in dem reichlich 80 v. H. der Gesamtbevölkerung auf dem platten Lande leben und kaum 20 v. H. in den mehr oder weniger kleinen und vielfach mit dem Ackerbau eng zusammenhängenden Städten. Die einzige Stadt von mehr als 100000 Einwohnern ist (seit wenigen Jahren) die Hauptstadt Sofia (1910: 102812; 1900: 67789). Selbst in dieser Stadt aber trifft man noch auf den Hauptplätzen und

‚.. _ 1) Annuaire Statistique du Royaume de Bulgarie 1912. Sofia, Imprimerie de "Etat, 1915.

Jahrb. f. Nationalök. u. Stat. Bd. 106 (Dritte Folge Bd. 51). 5

66 Arthur Dix,

-straßen Schaf- und Rinderherden und die Außenviertel tragen großen- teils ländliche Signatur. Weiter gibt es 7 Städte mit 20—50 000 Einwohnern, 19 mit 10—20000 und 25 mit 5—10000. Dabei ist zu bemerken, daß der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Ge- samtbevölkerung nicht wächst, sondern im Laufe der zehnjährigen Spanne zwischen den drei letzten Volkszählungen sich sogar noch etwas vermindert hat. Es wohnten v. H. der Gesamtbevölkerung in den Städten auf dem Lande

1900 19,91 80,09

1905 19,57 80,43

1910 . 19,112 80,88

Zur türkischen Zeit blühten in den für balkanische Verhältnisse

ungewöhnlich zahlreichen bulgarischen Städten die Zünfte; bulga- rische Handwerker versorgten den ganzen Markt der europäischen und asiatischen Türkei mit Textil- und Lederwaren. Der Boden des platten Landes befand sich in der Hand der türkischen Feu- dalen. Diese hatten jedoch große Lasten der Kriegführung zu tragen und gerieten mehr und mehr in Schulden. Sie gaben ihr Land nicht nur den fleißigen Bulgaren, die in den Gebirgen der Viehzucht ob- gelegen, in Bearbeitung, sondern (zur Aufbesserung der eigenen Finanzen) auch in Pacht bzw. zu Eigentum, seitdem um die Mitte des 19. Jahrhunderts die türkische Herrschaft durch eine Agrarreform auch den Bulgaren die Erwerbung von Grundbesitz gestattet hatte. So wurden aus den Knechten Grundbesitzer und der türkische Groß- grundbesitzer wurde durch die bulgarischen Bauern ersetzt.

& Der größte Teil des Bodens blieb zunächst freilich Allmende, und diese Allmende vergrößerte sich noch dadurch, daß nach der Befreiung die bisherigen Herren des Landes, die sich nicht in die Rolle des Beherrschten finden mochten, das Land verließen und ihren Besitz an die Dörfer veräußerten. So finden wir in Bulgarien die folgende, auffällige Verteilung des Grundbesitzes:

1897 1908 v. H. v. H. Staat 10,55 7,89 Gemeinden 23,78 25,09 Private 41,28 48,01 nicht exploitiertf 23,05 17,15

Der Rest entfällt auf die tote Hand.

Wenn der Gemeindebesitz sich nach dieser Statistik auch noch bis 1908 vermehrt hat, so zeigt die Allmende jetzt doch eher eine abnehmende Tendenz, da der landhungrige Bauer durch „Abpflügen“ auf Kosten der Gemeindeweide seinen Ackerboden zu vergrößern bestrebt ist, auch mit dem Uebergang zu rationellerer Wirtschaft die von der Gemeindeweide lebenden Schafherden sich verringern und Allmende zu Bebauungszwecken veräußert wird. Auch die tür- kischen Bauern aus der früheren Zeit haben ihre Wirtschaften nach der Befreiung an bulgarische Bauern verkauft, um selbst nach tür- kisch gebliebenen Gebieten auszuwandern. Die Landtransaktionen

Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. 67

haben sich großenteils mit Hilfe der bulgarischen Bauernbank voll- zogen.

Der Landhunger der bulgarischen Bauern konnte in der Zeit des großen Besitzüberganges ein starkes Sinken der Bodenpreise nicht hindern, da den Agrarprodukten der Absatzmarkt fehlte, die Bauern sich überkauften, dadurch in Schulden und zur Zeit der allgemein niedrigen Getreidepreise in eine große Krisis verfielen.

Die Absatzmöglichkeiten für die bulgarischen Agrarpro- dukte waren naturgemäß durchaus abhängig von den Verkehrs- möglichkeiten. So lange der Grundbesitzer den kaufkräftigen Markt blühender Handwerkerstädte vor der Tür gehabt hatte, vollzog das volkswirtschaftliche Leben sich glatt und eben in den Bahnen des alten, unmittelbaren Tauschhandels. Als aber der raschen Vermehrung bulgarischer Bauernwirtschaften ein Rückgang der Städte infolge be- ginnender industrieller Konkurrenz des Auslandes folgte, war das ganze Wirtschaftsleben schwer gestört und vollständigen Umwäl- zungen ausgesetzt.

In früheren Zeiten d. h. immer bis über die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinaus war Bulgarien vom Weltverkehr höchst ab- geschieden. Auf der Donau, der natürlichen Hauptverkehrsstraße des Landes, fand nur ein ganz beschränkter Verkehr von Segelschiffen statt. Das änderte sich, als der Pariser Vertrag die Freiheit der Donauschiffahrt brachte und daraufhin Oesterreich den Dampferver- kehr einzuführen und zu organisieren begann. Nun rückte Bulgarien plötzlich an den Weltmarkt heran, dem es bald auch noch durch die sogenannten Hirsch-Bahnen weiter erschlossen wurde. Plötzlich stand dem Lande der Weltmarkt offen.

Nun kam die bulgarische Produktion in ganz neue Bahnen: Der Agrarproduktion öffnete sich die Ausfuhrmöglichkeit und da- durch eine ungeahnte Möglichkeit der Produktionssteige- rung. Der offene Weltmarkt aber beeinflußte Bulgarien nicht nur empfangend, sondern auch gebend und gebend nahm er der bulga- rischen Volkswirtschaft die Grundlage ihrer alten Blüte: die Einfuhr industrieller Erzeugnisse tötete das bulgarische Handwerk.

Für den unter diesen doppelten Einwirkungen des Weltmarkts sich herausbildenden Agrarstaat Bul- garien war die Steigerung der Produktion durch die Erschließung der Ausfuhrmöglichkeiten entscheidend. Freilich ist im Auge zu halten, daß zunächst das Landgebiet, das von den Ausfuhrmöglich- keiten zu profitieren vermochte, recht begrenzt blieb: Der landes- übliche Transport auf kleinen Büffelwagen gestattete nicht auf weite Entfernungen die Zufuhr großer Getreidemengen zur Donau, und nur die der Donau bezw. später auch der Eisenbahn nächstgelegenen Landstriche konnten sich zunächst an den Lieferungen für den Weltmarkt beteiligen. Weiter im Innern blieb die Schaf-, Ziegen- und Büffelzucht noch vorherrschend. In dieser Uebergangsperiode war das Land mit groben Strichen in zwei Hauptgebiete zu teilen: das Ackerbaugebiet der Donau und das Viehzuchtgebiet des Balkan.

5*

68 Arthur Dix,

In der Periode von etwa 1881—95 dringt der Ackerbau von der Donau aus langsam südwärts vor. Hatte die Erschließung der Ausfuhr aber bis dahin die Produktion gesteigert, so stieß in der Folgezeit die ausfuhrbedürftig gewordene Produktion draußen auf so schlechte Weltmarktpreise, daß die Verschuldung der Bauern, die sich im Landhunger überkauft hatten, nun zur vollen Geltung kam und eine schwere Krisis über das Land zog. Sie währte etwa von 1897—1900 bezw. 1902. Die Hebung der internationalen Marktlage und die weitere Eisenbahnerschließung gaben der Ausfuhr und der Produktion dann wiederum neue Impulse, und seit 1903 setzte der Aufschwung so lebhaft ein, daß der bulgarische Bauer sein Interesse auch intensiveren Wirtschaftsformen zuzuwenden begann.

In dieser Hinsicht verdient bemerkt zu werden, daß das bulga- rische Ackerbauministerium zwar bereits seit seiner im Jahre 1894 vollzogenen Gründung die Einführung von Maschinen in die land- wirtschaftlichen Betriebe Bulgariens zu begünstigen suchte, damit aber während des ersten Jahrzehnts keinerlei Erfolg hatte. Als aber die Gestaltung der Weltmarktpreise eine intensivere Wirtschaft rentabel erscheinen ließ, begann der bulgarische Bauer von selbst, der Maschine lebhaftes Interesse zuzuwenden.

War nun auf der einen Seite die Intensivierung der Wirtschaft mit einer gesteigerten Besitzteilung verbunden, indem die bis dahin sehr großen bulgarischen Familienverbände sich unter Individuali- sierung der Besitzverhältnisse in ihre Bestandteile auflösten, so zeitigte andererseits die Benutzung der landwirtschaftlichen Maschine wiederum einen Zusammenschluß der Betriebe, und zwar auf dem Wege der Genossenschaft. Es bildeten sich zahlreiche Genossen- schaften zum Erwerb landwirtschaftlicher Maschinen, und zwar vor- wiegend deutscher Fabrikate.

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über die Bodennutzung in der bulgarischen Landwirtschaft mögen die statistischen Belege für Benutzung und Besitzverteilung des Bodens sowie für den Umfang der Maschinenbenutzung und des genossenschaftlichen Zu- sammenschlusses zu diesem Zweck am Platze sein. Die bulgarische Statistik hat als Hauptmaß für Bodenfläche 1 Decar (= 10 ar).

Die bulgarische Agrarstatistik von 1908 zählt rund 10 Millionen Grundstücke mit zusammen 80 Mill. Decar. Davon waren 36 Mill. Decar Ackerboden, 9 Mill. Weide und 28 Mill. Forst. Gegen 1897 hatte der Ackerboden sich um 22 v. H. vermehrt, der überhaupt land- und forstwirtschaftlich genutzte Boden um 8 v. H. und die Zahl der Grundstücke um 24 v. H

Die Besitzverteilung ist gekennzeichnet durch das Ueber-- wiegen der Grundstücke von 50—150 Decar, und zwar entfielen von der genutzten Gesamtfläche im Jahre 1908 auf die Größenklasse

v. H. v. H. der

der Fläche Besitzungen 50—75 Decar 14,3 19 75-10 12,6 14

100—150 17,7 16

Uom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. 69

Die bulgarische Agrarwirtschaft ist durchaus als Bauern- wirtschaft gekennzeichnet und trägt den Stempel einer sehr gleichmäßigen Besitzverteilung. Der gesamte Bodenwert wird von der amtlichen Statistik für die verschiedenen Perioden, wie folgt, beziffert !):

1895 1570 Mill. fres. 1900 ZOLI “a 1908 4838 vi 1912 6629 Davon: Ackerwert 1895 692 Mill? fres. Forsten 1895 686 Mill. fres. er 1912 3597 » » 1912 2353 » w Weide 1895 IO 5 2:5 Obst- u. Gemüse-f 1895 Te u es zn 1912 264: 350 gärten ae 46 0.» Weinland 1895 82 ur Rosarien 1895 Sie 1409. im 3 1912 iga mo vr 1912 25 un

Auffallend ist in dieser Schätzung, daß nicht nur der Boden der durch Landwirtschaft und Gartenbau genutzten Fläche gewaltige Preisvermehrungen verzeichnet, sondern auch die Forsten in einem Maße höher bewertet werden, wie es normalerweise kaum erklärlich wäre. Neben der Verkehrserschließung und allgemeinen Hebung der Konjunktur ist zur Erklärung der scharfen Forstschutzgesetz- gebung Bulgariens zu gedenken, die dem Raubbau Einhalt getan und rationeller Forstwirtschaft die Wege geöffnet hat.

Was die Preisentwicklung von Grund und Boden im einzelnen anbelangt, so mögen hier verschiedene Beispiele für dieBewegung der durchschnittlichen Ackerpreise in einzelnen Kreisen angeführt sein (für den Decar):

1880 1905 1912 Kreis Varna 6 14 53 fres. Vidin 20 90 149 » » Küstendil 25 127 226 Plewna 6 67 118 Sofia 18 102 ET M Ferner für Rosarien:

Kreis Stara Zagora 80 400 600

Strajitza 50 200 535

Die Einfuhr landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte bezifferte sich dem Werte nach

1890 auf 200 000 fres. 1905 auf 1700000 fres, 1895 550000 1910 3700000 1900 600000 „„, 1912 6800000 ,

Für die Bedürfnisse des landwirtschaftlichen Kredit- wesens sorgt in erster Linie die Banque Agricole de Bulgarie, die mit folgenden Kapitalien arbeitete:

1881 6,3 Mill. fres. 1886 14,2 ,„ i 1898 30,7 » 1912 523 > n

1) Nach neuesten Mitteilungen des Statistischen Amts.

70 Arthur Dix,

Die Zentral-Genossenschaftsbank, die insbesondere die genossen- schaftliche Maschinenbeschaffung und -benutzung fördert, ist ge- gründet mit je 2,5 Mill. der Nationalbank und der Agrarbank und zählt 1117 ordentliche Mitglieder. Ihre Umsätze beliefen sich 1912 auf rund 76 Mill. frcs., ihre Mitglieder sind in erster Linie Agrargenossenschaften, deren Zahl in Bulgarien mehr als 500 beträgt. Sie haben gegen 35000 Mitglieder, vorwiegend natürlich Bauern. Daß auch Gelehrte, Geistliche und Beamte an führenden Stellen der Förderung dieser Agrargenossenschaften leb- haftes Interesse zuwenden, dafür spricht die Tatsache, daß gegen 7 Proz. der Mitglieder (vorwiegend aus den eben bezeichneten Kreisen) keinen Grundbesitz haben. Bemerkt zu werden verdient ferner, daß über 70 Proz. der Mitglieder schriftkundig und kaum 30 Proz. Analphabeten sind. Aus der bulgarischen Landwirtschaft verschwinden in raschem Tempo die Bauern, die keinerlei Schul- bildung genossen haben, und machen einer neuen, jeder Belehrung leichter zugänglichen und auch wirtschaftlich beweglicheren Gene- ration Platz. Präsident der bulgarischen Ackerbau-Genossenschaften ist Professor Danaillow, der Nationalökonom der Universität Sofia.

Um noch einen Augenblick bei dem eben erwähnten Bildungs- wesen zu verweilen, dessen Entwicklung für die Produktions- steigerung in der bulgarischen Landwirtschaft von erheblicher Be- deutung ist, so muß die nach italienischem Muster geschaffene Einrichtung der Wanderschulen Erwähnung finden. Bulgarien hat nicht die deutsche Methode der landwirtschaftlichen Wanderlehrer übernommen, sondern die Methode ganzer Wanderschulen („Kreis- Ackerbau-Katheder“), die, in Zahl von etwa einem halben Dutzend existierend, von Ort zu Ort ziehen, bei den Bauern großes Interesse finden und überall begehrt sind.

Was die bulgarische Viehzucht anbetrifft, so sahen wir bereits, daß in früherer Zeit das Balkangebiet ganz überwiegend Viehzucht- gebiet war. Eine Fahrt durch das Land zeigt heute noch überall großen Viehreichtum, doch macht das Vieh einen sehr unscheinbaren Eindruck. Rinder und Pferde zumal sind außerordentlich klein. Diesen kleinen Tieren aber wird eine sehr große Zähigkeit nach- gesagt, die seitens der Pferde auch in den letzten Kriegen sich überraschend bewährt haben soll. Bis vor kurzer Zeit kannte der bulgarische Bauer überhaupt keine Pferde, sondern arbeitete nur mit dem in bezug auf Futter und Pflege viel anspruchsloseren Büffel. Erst die agrarische Blüte der Gegenwart hat auch bei den bulga- rischen Bauern das Bedürfnis nach dem früher als Luxus betrach- teten Pferd entwickelt.

Die Statistik der Haustiere in Bulgarien weist folgende Ziffern auf (1910):

Pferde 478 000 Schafe 8 669 000 Maultiere 12 000 Ziegen I 465 000 Esel 118 000 Schweine 527 000 Rindvieh 1 606 000 Geflügel 8 689 000

Büffel 413 000

Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. 71

Interessant ist, daß selbst in den Städten neben 45000 Pferden noch 21000 Büffel gezählt wurden, was den agrarischen Charakter des ganzen Landes scharf kennzeichnet.

Die Viehpreise haben in Bulgarien eine starke Aufwärtsbe- wegung zu verzeichnen, die jedoch nicht entfernt Schritt gehalten hat mit der gewaltigen Steigerung der Ackerpreise. Der Ackerbau über- ragt in der bulgarischen Landwirtschaft an Bedeutung mehr und mehr die Viehzucht, zumal den Erzeugnissen des bulgarischen Acker- baus der ganze Weltmarkt offensteht, bulgarisches Vieh aber in der Hauptsache nur in der Türkei Absatz findet und die Verwertung tierischer Produkte für Ausfuhrzwecke kaum in den Anfangsgründen steckt.

Die Ausfuhr der Agrarprodukte aus Bulgarien zeigt die nachstehende Entwicklung (in Mill. kg bzw. Mill. frecs.):

1895 1905 1911)

kg fres. kg fros. kg fres. Cerealien (Getreide, Mais, Reis) 505 59 723 95 824 107

Hülsenfrüchte 0,8 0,2 10 2,4 24 6,2 Obst und Nüsse 0,3 0,08 3,2 0,4 1,3 0,5 Gemüse 03 0,1 1,1 0,16 0,4 0,05 Industriepflanzen 3,6 0,8 35 8,5 18 5,7 Futtermittel 6 0,6 14 2

Der Wert der Ausfuhr an lebenden Tieren bezifferte sich 1911 auf 8 Mill. frcs., an Fleisch- und Viehprodukten auf 18 Mill. fres. An verarbeiteten Feldfrüchten wird Mehl in erheblichen Mengen ausgeführt. Dagegen ist die Ausfuhr von zu Konserven und dergl. verarbeiteten Früchten und Gemüse minimal.

Insgesamt zogen die bulgarischen Bauern vor der Periode der Kriege über 150 Mill. frcs. für die Ausfuhr von Erzeugnissen der Landwirtschaft und Viehzucht im Jahre aus dem Auslande an sich. Dieser Geldzufluß hat das bulgarische Dorf reich gemacht in einer Zeit, in der die bulgarische Stadt zurückblieb. Er hat dem Gebiet ehemals blühenden städtischen Zunftwesens den Stempel des blühenden Agrarstaates aufgeprägt.

Unter dem Einfluß dieses Geldzuflusses hat der früher unend- lich bedürfnislose bulgarische Bauer Kulturbedürfnisse zu entwickeln begonnen. Das einfachste Gerät, das früher auf seinem Tische un- bekannt war Glas, Messer, Löffel hat erst in dieser Zeit Ein- gang in das Bauernhaus gefunden. Die früher denkbar primitiven Hütten der Bauerndörfer weichen neuen, ansehnlicheren Bauten. Die steigenden Bedürfnisse verbinden den Bauern enger mit dem ihre Befriedigung liefernden Weltmarkt und geben dadurch neuen Impuls zu weiterer Steigerung seiner Produktion und Ausfuhr.

. Noch steht, trotz der im letzten Jahrzehnt erzielten Fortschritte, die rationelle Entwicklung der bulgarischen Land-

1) Die für 1912 gleichfalls vorliegenden Zahlen bieten wegen der damaligen

Kriegszustände keinerlei normale Vergleichsmöglichkeit. Für die spätere Zeit liegen bisher nur Teilangaben vor.

72 Arthur Dix,

wirtschaft in ihren Anfängen, noch ist eine Vervielfachung der Produktion möglich. Erst die durch die Schule gegangene neue Generation ist befähigt, den Fortschritten der Agrarkultur in raschen Schritten nachzustreben. Der Ausnutzung der technischen Verbesse- rungen und ihrer Früchte öffnen sich sowohl durch industrielle Weiterverarbeitung im Lande, wie durch neue Ausfuhrverbindungen wesentlich erweiterte Möglichkeiten. Ihre Betrachtung führt uns hinüber zu:

III. Bulgariens Industrie, Handel und Verkehr.

Bulgarien war, wie mehrfach hervorgehoben, vor der Befreiung ein Land blühenden städtischen Handwerks. Der bulgarische Hand- werker und Händler in der Stadt wuchs an Reichtum hinaus über den verschuldeten türkischen Feudalen auf dem Lande ein Um- stand, der nach dem Urteil mancher bulgarischen Gelehrten und Politiker das Befreiungswerk sehr förderlich beeinflußt hat. Nach der Befreiung büßte die bulgarische Stadt den türkischen Absatz- markt teilweise ein; das bulgarische Handwerk bekam die er- drückende Konkurrenz der fremden Industrie zu spüren; der Städter mußte fortfahren, Nahrungsmittel zu kaufen, indessen die Gelegenheit, seiner Hände Erzeugnis zu verkaufen, wesentlich eingeschränkt war kurz, eine tiefgehende Krisis ergriff das Wirtschaftsleben der bulgarischen Städte, die bis in unsere Tage fortdauert.

Wohl hat auch das platte Land seine Krisenzeiten durchgemacht, aber dank der Entwicklung der Weltmarktsverhältnisse für die Agrar- produkte hat es sie überwunden und seither einen großen Aufschwung genommen. Jetzt ist es an der Zeit, daß dieser ländliche Aufschwung auch befruchtend einwirkt auf Produktion und Handel in den Städten und daß auf diese Art ein neues Gieichgewichtin die bul- garische Volkswirtschaft kommt. Den bulgarischen Städten scheint ein neues Heil zu winken aus der zweckmäßigeren Verar- beitung der Agrarprodukte für den Weltmarkt und der Förderung ihres erweiterten Absatzes.

Die industrielle Entwicklung Bulgariens hält sich bisher in bescheidenen Grenzen. Der Staat sucht die industriellen Unternehmungen durch Unterstützungen verschiedener Art zu er- mutigen und zu fördern, und zwar insbesondere durch Steuer- und Zollermäßigungen bzw. -vergütungen'). Die Zahl der in dieser Art

1) Das „Gesetz zur Hebung der inländischen Industrie“ besagt, daß Fabrikunter- nehmungen mit mindestens 25000 Lewa Kapital folgende Begünstigungen erhalten können: Befreiung von den Grund- und Stenıpelsteuern für mehrere Jahre; 35 Proz. Frachtermäßigung auf den bulgarischen Bahnen; zollfreie Einfuhr aller Maschinen und Rohmaterialien; vorgängige Berücksichtigung bei Vergebung aller Aufträge von öffent- lichen Körperschaften, selbst wenn die Preisforderung des bulgarischen Unternehmens diejenige ausländischer Wettbewerber bis zu 5 Proz., in gewissen Fällen auch bis zu 15 Proz. übersteigt. Diese Vergünstigungen genießen auch mit fremdem Kapital in Bulgarien arbeitende Fabriken für ibre in Bulgarien produzierten Erzeugnisse,

Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. 73

staatlich subventionierten Privatbetriebe war im Jahre 1912 auf 381 (1909: 261) gestiegen. Außerdem gab es 8 Industrieunternehmungen des Staates selbst. Von den industriellen Privatunternehmungen ent- fallen auf:

Anzahl Kapital!) Motorische PS. Arbeiter

Bergwerke 4 2,6 655 436 Metallindustrie 31 3,9 796 1035 Keramische Industrie 24 7,6 1612 1703 Chemische Ps 30 3,8 586 602 Nahrungsmittel und Getränke 158 36,8 11 107 3 202 Textil-Industrie 76 17,4 5 981 4408 Holz- m 22 3,7 1 090 657 Leder- 28 3,1 754 533 Papier- 6 1,7 446 201 Elektrische Industrie 2 7,0 8720 5o

zusammen 381 87,6 31747 12 827

Sowohl nach der Zahl der Etablissements wie nach dem Umfang des angelegten Kapitals und der Maschinenkräfte steht also die In- dustrie der Nahrungs- und Genußmittel weitaus an der Spitze, wogegen in bezug auf die Zahl der beschäftigten Arbeiter die Textilindustrie den Vortritt hat. Insgesamt beschäftigt die Fabrikindustrie in Bulgarien nur rund 13000 Arbeiter, indes die bulgarische Berufsstatistik als überhaupt industriell erwerbstätig für 1905: 146388 Personen verzeichnete (Gesamtbevölkerung 4337 513 Köpfe, davon erwerbstätig 51,8 Proz., in der Landwirtschaft 1739181, im Handel 82 284, in freien Berufen 45587, Dienstboten 16 329).

Auch die Art der fabrikmäßig betriebenen Industrien verrät durchaus den agrarischen Charakter des Landes: Unter den oben as 381 Etablissements befinden sich nicht weniger als 110

ühlen.

Von besonderem Interesse ist ein Ueberblick darüber, wie weit die Fabrikbetriebe unmittelbar in bulgarischem Boden wurzeln und wie weit sie auf die Weltmarkt-Verbindungen angewiesen sind. Die amtliche bulgarische Statistik ermittelt sowohl die Verwendung heimischer und fremder Rohmaterialien wie den Absatz der Fertigfabrikate in Bulgarien und im Auslande. Ohne hier alle Einzelheiten dieser bemerkenswerten Statistik wiederzugeben (die leider nur für das Kriegs-, also wirtschaftlich anormale Jahr 1912 vorliegt), mögen doch einige besonders hervortretende Daten ange-

tt werden.

. Die größte, d. i. die Nahrungsmittel-Industrie, wurzelt mit ihrer Produktion ganz im heimischen Boden, ist mit ihrem Ab- Satz aber sehr wesentlich auch auf den Weltmarkt angewiesen. Von dem verarbeiteten Rohmaterial stammen dem Werte nach 47 Mill. frcs. aus dem Inland und nur 2,6 aus dem Ausland. Die verkauften Pro-

m

F 1) In Grundstücken, Gebäuden und Maschinen angelegtes Kapital in Millionen ranes,

74 Arthur Dix,

dukte haben einen Wert von 58,7 Millionen, wovon 14,5 ins Ausland

ehen. $ In gewissem Sinne, hinsichtlich der Herkunft der Rohstoffe, den „agrarischen“ Industrien zugerechnet ist ferner die Lederindustrie. Sie verarbeitet in Bulgarien, wo sie ehedem auf Grund heimischer Rohstoffproduktion blühte, zurzeit nur für 0,7 Millionen Landes- produkte, und 3,8 Millionen ausländischer Herkunft. Ihr Absatz in Höhe von 5,6 Millionen ist ganz auf das Inland beschränkt.

Die Holzindustrie arbeitet ausschließlich für den heimischen Markt (Absatz 0,9 Millionen) und zum größten Teil mit heimischem Rohmaterial (0,3 von insgesamt 0,5 Millionen).

Die an die Holzindustrie angrenzende Papierindustrie ar- beitet ebenfalls ausschließlich für den Inlandmarkt (Absatz 0,6 Mill.), ist aber zum größeren Teil auf ausländische Rohstoffe angewiesen (0,24 von insgesamt 0,45 Millionen).

Auch die keramische Industrie arbeitet restlos für den bulgarischen Markt (Absatz 3,4 Millionen). Von 1,5 Millionen ver- arbeiteter Rohstoffe entfallen bei ihr 0,5 auf die Einfuhr.

Sehr stark auf die ausländische Rohstoffeinfuhr angewiesen sind die Metallindustrie und die chemische Industrie.

Die Metallindustrie führt bei einer Gesamtverarbeitung von 1,46 Millionen nicht weniger als 1,28 aus dem Auslande ein setzt dagegen von den 2,7 Millionen ihrer Erzeugnisse nur für 12000 frcs. im Auslande ab.

Die chemische Industrie verarbeitet für 0,6 Millionen heimische und für 1,7 Millionen fremde Rohstoffe; sie setzt im In- lande für 2,5, im Auslande für 0,4 Millionen ab.

Endlich die Textilindustrie. Bei einer Gesamtverarbeitung von 13,7 Millionen stellt sich ihr Einfuhrbedarf auf 8,9 Millionen. Von ihren Verkäufen im Werte von 18,8 Millionen fanden 1,3 Mill. ihren Weg auf fremde Märkte.

Das Gesamtbild ist folgendes:

I. Rohstoffverbrauch: E bulgarischer Herkunft 56,3 Mill. fres.

2) fremder Herkunft 20,7 en II. Absatz: 1) in Bulgarien 86,0 Pr 2) im Ausland 175 » DD

Sehr geringfügig ist die Gewinnung mineralischer Roh- stoffe aus dem bulgarischen Boden. Sie beschränkte sich 1912 auf 20000 Tonnen Kupfer

5 000 EN Blei

312 000 i Erdöl Im Jahre 1912 wurden 172 Erlaubnisscheine für Bergwerks- Prospektoren ausgegeben (1892—1912 zusammen 2392), wobei die Erdölmutung die Hauptrolle spielt, daneben Eisen und Kupfer.

Bergwerks-Konzessionen wurden erteilt:

1892—1909: 38 1910: 7 1911: 4 1912:

Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. 75

In Kraft waren Ende 1912: 40 Bergwerks-Konzessionen, wiederum in der Mehrzahl gültig für Oelgewinnung. In der Metall- gewinnung spielt nur eine sehr reiche Kupfermine bei Vratza eine Rolle. Ob in Alt-Bulgarien weitere Bodenschätze ausbeutungsfähig sind, entzieht sich der Beurteilung. Sicher aber ist, daß reiche Mineralschätze in jenen Gebieten Mazedoniens vorhanden sind, die durch den zweiten Balkankrieg Serbien zugefallen waren, im Oktober- November 1915 aber von den Bulgaren in der Absicht besetzt wurden, sie nicht wieder aus der Hand zu geben.

Faßt man dienatürlichen Grundlagen ins Auge, auf denen die bulgarische Industrie entwicklungsfähig ist, so sind wiederum in erster Linie diejenigen Industrien in Betracht zu ziehen, die sich auf der Agrarproduktion aufbauen. Es wurde schon erwähnt, daß zurzeit die Mühlenindustrie Bulgariens Hauptindustrie bildet. Mit bulga- rischem Kapital waren hervorragende, mit allen Hilfsmitteln modernster Technik ausgestattete Mühlen, namentlich auch in jenen Donaustädten der Sid-Dobrudscha, angelegt worden, auf die im zweiten Balkan- krieg Rumänien seine Hand legte').

In den Anfängen begriffen ist ferner die bulgarische Zucker- und Spiritusindustrie. Auch Teigwaren (Makkaroni) werden fabrik- mäßig hergestellt. Entwicklungsfähig ist weiter die Pflanzenöl- (Rüböl-)Fabrikation. Noch nicht vorhanden, aber offenbar recht aus- sichtsreich ist für Bulgarien die Fabrikation von Obst- und Gemüsekonserven. Der Bulgare steht als Gärtner in hohem Ruf; alljährlich gehen viele bulgarische Gärtner nach der Türkei, Rumänien, Ungarn, Rußland, auch Amerika. Der Boden liefert aus- gezeichnete Früchte; große Zuckermelonen sind für ungemein billige Preise in großen Mengen erhältlich; der bulgarischen Tomate wird besondere Güte nachgesagt. Die Bewässerung durch die Gebirgs- bäche ist für die Gemüsezucht ebenso wertvoll wie die bis in die späte Jahreszeit hinein heiße bulgarische Sonne. Die Bedingungen für die Schaffung einer ausgedehnten bulgarischen Konservenfabri- kation sind auf dieser Grundlage um so günstigere, als ja auch die Zuckerindustrie bereits in der Entwicklung begriffen ist. Was fehlt, sind die Verpackungen (Weißblech!). Ob hier die Einfuhr oder aber die keramische Industrie Bulgariens, der reiche Tonerden-Lager zur Verfügung stehen, einzugreifen hätte, muß dem Urteil der Praktiker überlassen bleiben.

Bulgarien liefert fernerhin reichliche Wolle für die Textilindustrie. Mit Intensivierung der Bodennutzung geht allerdings die Schafzucht zurück; dafür aber dehnt sich anderseits die Baumwollkultur aus, deren Pflege vor seinen Toren für Mitteleuropa von besonderem Interesse ist.

1) Vgl. „Les Pretentions de la Roumanie sur le territoire bulgare et la ville de Silistrie“. Conference tenue le 10./23. Mars 1913 par le Professeur Georges Th. Da- naillow, Sofia, Imprimerie de l’Etat, 1913.

76 Arthur Dix,

Der handwerksmäßigen Lederverarbeitung, die früher in Bulgarien in so hoher Blüte stand, ist eine bulgarische Lederindustrie nach der Vernichtung des Handwerks noch nicht gefolgt.

Vernichtet ist das alte bulgarische Handwerk vornehmlich durch die Konkurrenz der billigen österreichischen Industrieerzeugnisse nach dem Bau der Eisenbahnen und Einführung der türkischen Wertzölle.e Auf den früher vom Handwerk beherrschten Gebieten entwickelte sich eine eigene bulgarische Industrie nur langsam, aber bemerkenswerterweise fast ganz mit bulgarischem Kapital. Seit 1885 beginnt die Entwicklung der Textil-(Woll-)Industrie. Aus- ländisches Kapital hat sich erst bei Schaffung der bulgarischen Zuckerindustrie betätigt, wogegen die in größerer Zahl entstandenen Brauereien gleich den vielen Mühlen aus dem Gelde der bulgarischen Bauernkapitalisten hervorgegangen sind.

Soweit fremdes Kapital in die bulgarische Industrie Eingang gesucht und gefunden, war es in erster Linie belgischen Ursprungs. Auch die Straßenbahn und die elektrische Beleuchtung von Sofia hat das belgische Kapital geschaffen; die Einrichtungen sind indessen geliefert von der Deutschen A.E.G. Deutsches oder österreichisches Kapital steckt bisher fast garnicht in der jungen bulga- rischen Industrie. Vorteilhafte Verwendung würde ihm wohl in erster Linie winken in der Konservenindustrie sowie in der Seiden- industrie, die konkurrenzfähig nur mit größeren Kapitalien zu ent- wickeln ist.

Während das deutsche Kapital mit der bulgarischen Industrie noch keine direkte Fühlung genommen hat, ist es im bulgarischen Handel hervorragend tätig. An der Regelung des bulgarischen Kreditwesens hat sich das deutsche Kapital nicht nur zeitlich zu- erst, sondern auch dem Umfange nach am bedeutendsten beteiligt war doch die letzte bulgarische 500 Millionen -Anleihe, die durch die Diskonto - Gesellschaft übernommen wurde, die größte Finanz- Transaktion, die Bulgarien bisher jemals durchgeführt hat.

Die erste mit ausländischem Kapital in Bulgarien gegründete Bank war 1905 die durch die deutsche Diskonto-Gesellschaft ge- schaffene Kreditbank. Ihr folgte 1906 die österreichische Balkan- bank, später die Banque Générale, die mit französischem und unga- rischem Kapital ins Leben gerufen wurde, und neuerdings eine „Banque Franco-bulgare d’hypotheque“. Die öffentlichen Anleihen Bulgariens wurden ursprünglich in Frankreich untergebracht, die private Kredit- organisation aber vorwiegend durch deutsches Kapital geregelt.

Unter den bulgarischen Aktienbanken verfügt die obengenannte französisch-bulgarische mit 20 Millionen über das größte Grund- kapital. Die staatliche Nationalbank arbeitet mit 11 Millionen Ka- pital und 7 Millionen Reserven (1907: 10 +5, 1886: 6 +0, 1880: 1,78 + 0,18). Bei den 16 Bankstellen und den Agenturen der Na- tionalbank wurden im Jahre 1912 1,5 Millionen Operationen mit 6,7 Milliarden frcs. Umsatz vollzogen.

Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. 77

Der bulgarische Außenhandel hatte zur handelspolitischen, vertragsmäßig geregelten Grundlage bei der Befreiung die Bedin- gungen zu übernehmen, die seit 1862 in den ersten türkischen Handels- verträgen festgelegt waren d. h. die Bindung an einen 8-proz. Wertzoll. Dieser Satz ermöglichte in erster Linie die für das städtische Wirtschaftsleben im selbständigen Bulgarien ruinöse Kon- kurrenz der österreichischen Industrieerzeugnisse mit den Produkten des bulgarischen Handwerks. Erst im Jahre 1896 kam ein eigener Vertrag Bulgariens mit Oesterreich-Ungarn über die Erhöhung der Wertzölle bis auf 14 v. H. zustande, dem entsprechende Verträge mit Deutschland, Italien, Frankreich und den anderen Mächten folgten.

Die Folgezeit brachte in Bulgarien eine schutzzöllnerische Be- wegung. Im Jahre 1902 wurde eine Kommission zum Studium der handelspolitischen Fragen und zur Vorbereitung eines bulgari- schen Zolltarifs eingesetzt. Der Zolltarifentwurf wurde bis zum Jahre 1905 fertiggestellt. Wiederum begannen die handelspolitischen Verhandlungen auf dieser neuen Grundlage zunächst mit derjenigen europäischen Macht, die für Bulgarien wirtschaftlich am wichtigsten war: Oesterreich-Ungarn. Diese Verhandlungen führten zunächst jedoch zu keinem Ergebnis. Der erste neue Vertrag kam mit Ruß- land zustande, doch war und ist der russisch-bulgarische Handel be- langlos.

Im März 1905 sandte die bulgarische Regierung Delegierte nach Berlin zur Aufnahme von Handelsvertragsverhandlungen zwischen Bulgarien und Deutschland. Erster Delegierter war Prof. Danaillow, ein ausgezeichneter Kenner des bulgarischen Wirtschaftslebens, der auf deutschen Hochschulen Nationalökonomie studiert hat und in der Leitung des bulgarischen Genossenschaftswesens nach deutschem Muster einen führenden Platz einnimmt. Diese handelspolitische Sonder- gesandtschaft pflog in Berlin vier Monate lang die Beratungen, bis sie zum erstrebten Abschluß des deutsch-bulgarischen Handelsver- trages kam, der dann das Muster abgab für die Verträge mit Italien, Frankreich und England.

Inzwischen wurden 1905 auch Verhandlungen mit Serbien über eine bulgarisch-serbische Zollunion geführt. Ein entsprechender Ver- trag wurde geschlossen und von der Sobranje einstimmig angenommen aber Oesterreich begann daraufhin mit Serbien einen heftigen Zollkrieg, durch den es Serbien schließlich zwang, den Vertrag mit Bulgarien zu lösen. Erst im Jahre 1907 kam dann auch ein Handels- vertrag zwischen Bulgarien und Oesterreich-Ungarn auf der Grund- lage der Meistbegünstigung zustande.

Ueber den Umfang des bulgarischen Außenhandels seit 1886 (der Vereinigung von Nordbulgarien und Ostrumelien) gibt die nachstehende Tabelle Auskunft:

78 Arthur Dix,

Br Einfuhr Ausfuhr Fünfähriger in Millionen Durchschnitt kg Fi kg fies; 1886—1890 144 7I 446 62 1891—1895 207 84 604 7 1896—1900 223 68 481 69 1901—1905 238 95 793 120 1906—1910 414 140 610 119 Jahr 1908 447 130 545 112 1909 474 160 469 III 1910 503 177 632 129 1911 564 199 1036 185 1912 573 213 757 156

Nach Ländern verteilte sich der bulgarische Außenhandel fol- gendermaßen (in Mill. frcs.):

1886 1896 1906 1911 1912

Einf. Ausf. Einf. Ausf. Einf. Ausf. Einf. Ausf. Einf. Ausf Oesterreich-Ungarn 17,1 2,5 228 2,7 27,8 82 48,3 10,6 5I, 15,5 England 18,3 14,6 18,23 32,9 19,6 15,0 30,0 24,2 31,8 16,4 Belgien o6 2,2 85 31 20,1 5,0 53,8 5,9 41,8 Deutschland 21 8,6 20,5 16,2 15,4 39,8 22,9 43,5 24,8 Griechenland 05 06 04 03 02 97 05 1237 08 84 Italien 14 16 26 19 55 39 91 39 132 87 Rumänien 33 13 238 04 34 11 87 12 134 1% Rußland 35 035 43 4,6 03 70 083 98 03 Vereinigte Staaten 05 083 05 14 17 I2 45 18 Serbien 08 03 10 I4 06 I8 086 18 05 Türkei 11,2 29,2 9,9 221 181 21,7 16,0 29,3 13,6 17,0 Frankreich 38 96 33 14,0 53 90 249 ILı 150 7,5 Niederlande 05 06 = 23 22 25 1,5 Schweiz o7 oTt 1,1 0,6 N 03 23 0,3 Schweden u. Norwegen ol o6 16

Unter Zugrundelegen der Ziffern für 1911 da 1912 als Kriegs- jahr ein schiefes Bild gibt seien aus den einzelnen Posten der bulgarischen Handelsstatistik besonders erwähnt:

I. Ausfuhr von Agrarprodukten:

Lebendes Vieh. Gesamtausfuhr 8,3 Mill. Davon nach: der Türkei 6T 5 Oesterreich-Ungarn 08 Griechenland 08 » Fleischwaren. Gesamtausfuhr 18:1: u Davon nach: Deutschland 10,8 der Türkei ZIT p Oesterreich-Ungarn 19 Getreide und Mehl. Gesamtausfuhr 1208 a Davon nach: Belgien 50,5 » England 22%: m der Türkei 14,0, Griechenland 116 OT Deutschland Zi 9 Frankreich 68 a

Oesterreich-Ungan 4,2

Obst und Gemüse. Gesamtausfuhr DT. Davon nach: Belgien 2,0.

Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten.

II. Einfuhr von Industrieprodukten:

Chemische Industrie. Davon aus:

Farbstoffe.

Davon aus:

Drogen und Medikamente. Davon aus:

Metalle und Metallwaren. Davon aus:

Papier.

Davon aus:

Leder und Lederwaren. Davon aus:

Textilwaren.

Davon aus:

Waggons und Wagen. Davon aus:

Maschinen.

Davon aus:

Bücher und Kunstwerke. Davon aus:

Gesamteinfuhr Oesterreich-Ungarn England Deutschland

Gesamteinfuhr Deutschland Oesterreich-Ungarn

Gesamteinfuhr Deutschland Oesterreich-Ungarn

Gesamteinfuhr Deutschland Oesterreich-Ungarn England Frankreich Belgien

Gesamteinfuhr Oesterreich-Ungarn Deutschland

Gesamteinfuhr Frankreich Oesterreich-Ungarn Deutschland

Gesamteinfuhr England Oesterreich-Ungarn Deutschland Italien Frankreich der Türkei Belgien

Gesamteinfuhr Deutschland

Gesamteinfuhr Deutschland Frankreich Oesterreich-Ungarn England Vereinigte Staaten

Gesamteinfuhr Deutschland Oesterreich-Ungarn

2,3 Mill. 09 » 06 0,4 30 » 1,2 FF} 09 n 1,8 » O5 » 0,4 LAJ 23,8 [23 82 » 7,5 29 » I5 » I2 38 2,6 » 08 n 133 » 4,5 2,9 1,8 rA 58,0 » 17,0 » 134 » 9,4 n Dt » 33 » 28 n 1,9 36 » 28 » 25,6 10,4 FF} 46 » A, 35 » I,4 e 0,3 03 »

79

Prozentual waren im Jahre 1911 beteiligt an Bulgariens:

Deutschland Öesterreich-Ungarn Bel gi en

Türkei

Griechenland Rumänien

Gesamt- einfuhr Proz. 20,0 24,2 2,5 8,0 0,2 4,4

Gesamt-

ausfuhr Proz. 12,4 5,7 29,1 15,8 6,8 0,7

Serbien England Frankreich Rußland Italien

Gesamt- einfuhr Proz. 0,9 15.1 12,5 3,5 4,6

Gesamt- ausfuhr Proz. 0,8 13,1 6,0 0,2

2,1

80 Arthur Dix,

Unter politischen Gesichtspunkten lassen sich diese Staaten zur- zeit (d. h. nach dem Stande von Anfang November 1915) in fol- gende Gruppen teilen:

Anteil an der bulgarischen

Einfuhr Ausfuhr I. Verbündete: Proz. Proz. Deutschland 20,0 12,4 Oesterreich-Ungarn 24,2 5,7 Türkei . 8,0 15.8 52,2 33,9 II. Gegner, deren Gebiet durch die Verbündeten überwiegend er- obert ist: Belgien 2,5 29,1 Serbien 0,9 0,3 5 3,4 294 I+II 55,6 633 III. Vierverband: England 15,1 13,1 Frankreich 12,5 6,0 Rußland 3,5 0,2 Italien 46 2,1 357 21,4 IV. Neutrale Nachbarn: Griechenland 0,2 6,8 Rumänien Sa 0.7 4,5 7,5

Diese Abwägung der bulgarischen Wirtschaftsinteressen hat eine bedeutende Rolle gespielt in den Flugschriften, deren Verbreitung durch das Land seinem Eingreifen in den Weltkrieg unmittelbar voranging.

Endlich gibt die amtliche bulgarische Handelsstatistik über die Wege des bulgarischen Außenhandels folgende Auskunft:

Es gingen 1911 von Bulgariens

Einfuhr Ausfuhr Proz. Proz. über das Schwarze Meer 42,81 49,03 die Donau 23,13 29,09 Land 34,06 21,88

Ging der größere Teil des Verkehrs bisher durch das Schwarze Meer und Donau-abwärts, so erwarten bulgarische Volkswirte auf der Grundlage der neu geschaffenen politischen und geographischen Verbindungen für die Zukunft eine bedeutende Steigerung des Verkehrs Donau-aufwärts. Sie erinnern daran, daß schon in ganz alten Zeiten ein erheblicher Handel Bulgariens bis Passau statt- gefunden, und verweisen weiter auf den Umstand, daß agrarische Konkurrenzrücksichten Oesterreichs und Ungarns je länger je mehr mit dem steigenden agrarischen Eigenbedarf dieser Länder zurück- treten dürften. Wesentliche Verbesserungen der Donauhäfen sind

Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. 8

im Gange, und das Streben der Wittelsbacher, die Donauschiffahrt zu fördern, begegnet sich mit den Wünschen der Bulgaren. Auch die kaufmännische Fühlung zwischen bulgarischen, österreichischen und deutschen Handelshäusern wird fördernd beeinflußt durch die Tatsache, daß die Söhne der bulgarischen Kaufleute mit Vorliebe auf den Handelshochschulen in Wien, Frankfurt, Köln studieren.

Hochwertige Landprodukte, wie Reis und Baumwolle, können, zumal nach der erwarteten Erweiterung des bulgarischen Bodens, auf dem Wasserwege nach Mitteleuropa verfrachtet werden, und die Vorbedingungen für Ersatz der italienischen Obst- und Gemüse- ausfuhr durch Bulgarien sind günstig, da, wie oben dargelegt, die klimatischen Verhältnisse Bulgariens dem Gartenbau sehr günstig sind und der ruhige Flußtransport das Obst besser schont als der Eisenbahntransport.

Der reiche Viehstand Bulgariens würde beispielsweise auch eine umfangreiche Käseausfuhr begünstigen. Die Bulgaren selbst sind allerdings der Ansicht, daß ihre Käseerzeugnisse nur den balkanischen und türkischen Ansprüchen genügen, doch kann aus eigener Erfahrung festgestellt werden, daß auch die Deutschen in Sofia dem bulga- rischen Käse durchaus Geschmack abgewonnen haben.

Mit weiter wachsendem Wohlstand Bulgariens wird der Einfuhr- bedarf an besseren Textilerzeugnissen, ferner an Metallwaren, Ma- schinen, chemischen Produkten, Papier u. dgl. sich beständig heben. Je mehr sich aber der bulgarische Bedarf in der Richtung der Nach- frage nach Qualitätserzeugnissen zu entwickeln vermag, um so günstiger werden vor allen Dingen die Aussichten der deutschen Ausfuhr nach Bulgarien. Die bulgarische Handelsstatistik dürfte übrigens schon jetzt kein genaues Bild von dem Anteil der Einfuhr deutscher Erzeugnisse geben, da die kaufmännischen Verbindungen von Sofia überwiegend nach Budapest und Wien tendierten und aus Oesterreich viele deutsche Produkte unter österreichischer Flagge eingeführt wurden. Das durch die politische Entwicklung gesteigerte Interesse Berlins für Sofia und umgekehrt dürfte auch hierin einen Wandel bringen.

Bulgarien verzeichnete im Jahre 1911 in 8 Häfen am Schwarzen Meer einen Verkehr von 2825 eingehenden Dampfern und 3631 Segel- schiffen mit zusammen 2,1 Mill. t Raumgehalt, 321000 t Ladung und 67000 Passagieren; in 10 Donauhäfen 9080 einkommende Dampfer und 695 Segelschiffe mit zusammen 1,9 Mill. t Raumgehalt, 237 000%t Ladung und 182000 Passagieren.

Das bulgarische Eisenbahnnetz hatte 1912 eine Gesamtlänge von 2000 km Schienen (1888: 0,7, 1898‘ 1,0, 1900: 1,5 Tausend), fast ausschließlich in Staatsbesitz übergegangen. Das rollende Material hatte einen Wert von 45 Mill. fres. Befördert wurden 3,3 Mill. Passagiere und 2 Mill. t Güter.

‚Unter bulgarischer Flagge standen 1912 nur 196 Handels- schiffe mit 17 000 Brutto-Tonnen, darunter nur 16 Dampfschiffe mit

Jahrb. t. Nationalök. u. Stat. Bd. 106 (Dritte Folge Bd. 51). 6

82 Arthur Dix,

5100 t. Eine bulgarische Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft ist dem Vernehmen nach in der Gründung begriffen und soll nach dem Kriege ins Leben treten.

Die Zukunft des bulgarischen Außenverkehrs ist einerseits ab- hängig von der neuen Gestaltung der Donaugrenze, anderseits von der künftigen Stellung Salonikis (internationaler Freihafen ?).

IV. Finanzen und Ausblicke.

Die wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Zukunft Bulgariens in Landwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr sind in den vor- stehenden Betrachtungen bereits auseinandergesetzt worden, soweit eine Prüfung der natürlichen Entwicklungsgrundlagen auf dem bul- garischen Boden und der Verbindungen mit dem Weltmarkt die Handhaben hierzu bietet. Abschließende Urteile über die wirtschaft- lichen Aussichten des Landes sind naturgemäß zu einer Zeit un- möglich, in der die Begrenzung Neu-Bulgariens noch unsicher ist. Gleichwohl reizt eben jetzt beim Anbruch einer neuen Zeit für dieses, durch die große Wendung in seiner Politik Mitteleuropa merklich näher gerückte Land der Versuch besonders, auf der Basis der bisherigen Entwicklungsgeschichte die weiteren Aussichten ab- zuschätzen und Ausblicke auf die neu sich öffnenden Wege zu tun.

Neben den Bodenbedingungen und den Verkehrsbedingungen der bisherigen und der möglichen Entwicklung, die wir betrachtet haben, sind nun aber auch noch die finanziellen Bedingungen besonders zu berücksichtigen.

Es wurde schon dargelegt, daß die bisherige Schaffung in- dustrieller Anlagen in Bulgarien sich ganz überwiegend mit bul- garischem Kapital vollzogen hat; ferner, daß das bulgarische Dorf in der letzten Wirtschaftsperiode reich geworden ist, die bulgarische Stadt aber sich in weniger günstiger Lage befand.

Wäre ohne kriegerische Unterbrechung das bulgarische Wirt- schaftsleben seinen normalen Gang weiter fortgeschritten, so hätte das platte Land für eine industrielle Ausdehnung in bescheidenem Umfange auch noch weitere Kapitalien liefern können; größere Industrieunternehmungen aber würden auf ausländisches Kapital zurückzugreifen wohl veranlaßt sein.

Hat der Krieg die bulgarischen Privatfinanzen erschüttert ? Oder sind die kapitalistischen Grundlagen für den weiteren Aufbau der bulgarischen Wirtschaft eher erweitert?

Bei dem vorsichtigen Versuch, zur Beantwortung dieser Frage nur einige Fingerzeige zu geben, stütze ich mich auf die Aus- lassungen als regierungsseitig inspiriert betrachteter Flugblätter, die bei Eintritt des Staates in den Krieg 1915 verbreitet wurden, sowie auf eingehende Unterrichtung durch bulgarische und deutsche prak- tische und theoretische Volkswirte, deren alte Landes-, Geschäfts- und Menschenkunde ein möglichst sicheres Urteil verbürgt.

Vom bulgarischen Wirtschaftsleben und seinen Aussichten. 83

Der bulgarische Bauer, der unter stockenden Absatzgelegenheiten während des Weltkriegs gelitten, bekam gerade durch Bulgariens kriegerisches Eingreifen Gelegenheit, seine Produkte zu außerordent- lich vorteilhaften Preisen abzusetzen. Die Regierung selbst stellte sich auf den Standpunkt, daß die auf diese Art erzielten Gewinne für das Land mittelbar die Kriegskosten ausgleichen würden !

Der städtische Handel hat in der Zeit des infolge abgeschnittener Zufuhr herrschenden Warenmangels hohe Konjunkturgewinne erzielt. Das ausgedehnte Geschäft der Heereslieferungen hat auch in den bulgarischen Städten beträchtliche Reichtümer sich anhäufen lassen. Wohl sind anderseits namentlich die weniger kapitalkräftigen Konsumenten in den Städten durch den Krieg schwer betroffen worden, und die lange Folge der Moratorien durch drei aufeinander folgende Kriege hat Erschütterungen in das Wirtschaftsleben ge- bracht, die ohne eine partielle Krisis schwerlich auslaufen dürften. Aber abgesehen von der „Aussortierung“ schwacher Kräfte, erwarten Kenner der bulgarischen Wirtschaft keine tiefere Wirkung der Krise, da eben auf der anderen Seite sowohl auf dem Lande wie in den Städten reichliche Kriegsgewinne gemacht worden sind. Das auf diese Weise angehäufte Privatkapital war im November 1915 so flüssig, daß die Sofioter Banken Depositenverzinsungen ablehnten.

Auch der Umstand, daß Bulgarien Kriegsbestellungen nur bei Deutschland und Oesterreich-Ungarn gemacht hat, andererseits aber durch die Lieferung von Agrarprodukten zu hohen Preisen sich das Ausland verpflichten konnte, verspricht nach dem Kriege günstige Wirkungen auf den bulgarischen Geldstand bzw. die Valuta.

Anders als das Bild der Privatfinanzen zeigt sich das der Staatsfinanzen. Bulgariens Staatsschuld bezifferte sich am l. Januar 1913 auf 597 Mill. frcs. Der zweite Balkankrieg aber ver- setzte das Land vor die Notwendigkeit, späterhin mit der Diskonto- Gesellschaft die 500 Millionen-Anleihe Bulgariens bisher größte Finanzoperation abzuschließen. Dabei blieben 300 Mill. fres. Schulden aus dem zweiten Balkankrieg ungedeckt (von der National- bank vorgeschossen). Neue, große Anforderungen stellte das aber- malige Eingreifen des Landes in den Krieg; über ihre Deckung kann hier naturgemäß noch nichts Abschließendes gesagt werden.

Das bulgarische Budget arbeitete im letzten Jahre ohne kriege- rische Störung, d. i. 1911 mit 204 Mill. fres. Einnahmen und 203 Mill. fres. Ausgaben. Seit 1879 hatte sich beiläufig die Gesamt- summe der bulgarischen Staatseinnahmen belaufen auf 3554 Mill, die der Staatsausgaben bis Ende 1911 auf 3531 Mill. frcs.

Gegenüber den Staatsschulden ist zu erinnern an den Staats- besitz: Der Wert der Staatsbahnen beziffert sich auf 260 Mill. frcs. (dazu 45 Mill. frcs. in rollendem Material). Im Staatsbesitz befinden sich 7,9 Proz. des auf insgesamt 6,6 Milliarden Wert bezifferten bulgarischen Landareals.

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84 Arthur Dix,

Das Urteil bulgarischer Volkswirte geht dahin, daß nach dem Kriege beträchtlich gestiegenem Staatsbedarf eine (trotz nach den ausgedehnten Moratorien kaum vermeidbaren partiellen Krisen) im ganzen beträchtlich gesteigerte Finanz- und Steuerkraft in Stadt und Land gegenüberstehen werde. Geschickte Finanz- und Wirtschaftspolitik aber würde unseres Erachtens das Wort: „Ein armer Staat ein reiches Volk“ insofern es zeitweise zutreffen sollte nicht lange in Geltung lassen. (In gewisser Weise aller- dings hätte man geraume Zeit hindurch wohl versucht sein können, dieses Wort auch auf das Deutsche Reich in seinen Steuernöten und das reiche deutsche Volk anzuwenden!)

Wie immer aber sich unmittelbar nach dem Kriege das bul- garische Wirtschaftsleben auch durch Zeiten weniger oder mehr ausgedehnter, krisenhafter Erschütterungen zu bewegen haben mag der Endeffekt des tatkräftigen politisch-militärischen Eingreifens Bulgariens kann sich schwerlich anders als in einer neuen Periode ebenso tatkräftigen wirtschaftlichen Aufstrebens äußern. Die realen Grundlagen sind hierzu durchaus gegeben:

Sie beruhen in einer Landwirtschaft, der die Boden- und Klima- verhältnisse eine noch. sehr wesentliche Mehrung ihrer Jahres- produktion gestatten;

in einem Boden, der die verschiedenartigsten Produkte bis zu ganz hochwertigen Kulturen und Industriepflanzen zu tragen vermag und sich über so verschiedene Klimata verteilt, daß fast nie eine wirklich allgemeine Mißernte das Land bedrohen könnte;

in den Möglichkeiten, die Agrarprodukte in großem Umfange industriell zu verwerten und auch eine Reihe anderer Industrien wenn dem Lande größerer Kohlenreichtum versagt ist, unter Zuhilfe- nahme seiner sehr reichen Wasserkräfte zu entwickeln;

in dem großen Fleiß und der kulturellen Strebsamkeit seiner noch in der Jugend einer neuen, staatlich-selbständigen Entwicklung stehenden Bewohner;

in der engen Knüpfung der politischen Verbindungen gerade mit jenen Mächten, die wirtschaftlich als Abnehmer und als Liefe- ranten weitaus am wichtigsten für Bulgarien sind;

in dem Hineinwachsen des Landes in jene große Staatenkette, die für die Zukunft den großen mitteleuropäisch-vorderasiatischen Verkehr zu kontrollieren und zu pflegen und, wie politisch-militärisch, so auch in wechselseitiger wirtschaftlicher Ergänzung zusammen- zustehen bestimmt ist.

Bulgarien hat sich mit dem 12. Oktober 1915 für die „deut- sche Gruppe“ der Mächte entschieden. Es hat schon vordem in der Statistik seines gesamten Außenhandels Deutschland an erster Stelle zu verzeichnen gehabt zumal wenn in Betracht gezogen wird, daß auch der bulgarische Handel über Belgien (in gewissem Umfange auch über Konstantinopel, über griechische und englische Häfen und über Oesterreich) seine Ausläufer nach Deutschland sandte. Es sieht für die Zukunft einer weiteren Verengung und

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einer direkteren Ausgestaltung seiner wirtschaftlichen Beziehungen ganz besonders mit Deutschland entgegen dem Lande, mit dem Bulgarien den ersten modernen Handelsvertrag abgeschlossen, das ihm die bisher größte bulgarische Anleihe verschafft hat, das die erste Stelle in der Organisation des bulgarischen Kreditwesens ein- genommen, und auf dessen Hochschulen viele Bulgaren ihre ideelle und ihre praktisch-volkswirtschaftliche Ausbildung genossen haben. Deutschland war der Vorkämpfer auf dem Wege, auf dem Bulgariens Zukunft liegt jenem Wege, von dem der bulgarische Gesandte in Berlin, Herr Rizow, im August 1915 sagte: „Bulgarien wird in Zukunft an der großen Wirtschaftsstraße liegen, die von Berlin bis Bagdad führt und für alle am Wege befindlichen Nationen Kraft und Größe, Reichtum und Blüte bedeutet.“

Sofia, 12. November 1915.

86 Nationalökonomische Gesetzgebung.

Nationalökonomische Gesetzgebung.

l.

Das Gesetz über vorbereitende Maßnahmen zur Besteuerung der Kriegsgewinne.

Von dem Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat und Senatspräsidenten des preußischen Oberverwaltungsgerichts Dr. jur. G. Strutz.

Die in Aussicht stehende Besteuerung der Kriegsgewinne ver- spricht nach den verschiedensten Richtungen hin ein höchst eigenartiges Glied des Reichssteuersystems zu werden. Damit will ich durchaus keinen, Vorwurf verbinden. Ich habe im Gegenteil bereits wiederholt ausgesprochen, daß ich mit einer geschickt gestalteten, in der Höhe der Sätze den Bogen nicht überspannenden Kriegsgewinnsteuer durchaus einverstanden bin.

Eigenartig ist schon der erste Anstoß zu einer besonderen Be- steuerung der Kriegsgewinne. Neue Steuern pflegen dem Wesen der Steuer entsprechend geboren zu werden entweder aus dem Bedürfnis eines Deckung heischenden Finanzbedarfs oder aus der Erkenntnis von der Ungerechtigkeit oder Unzweckmäfßigkeit bestehender Steuern. Weder das eine noch das andere hat den eigentlichen, ersten Aus- gangspunkt des Gedankens der Kriegsgewinnsteuer gebildet. Dieser war vielmehr der Eindruck der öffentlichen Meinung, daß in der Zeit der wirtschaftlichen Kriegsnöte eine Minderheit insbesondere durch Kriegslieferungen oder Vermittelung solcher und bei der Volksversorgung mit Lebensmitteln unverhältnismäßig hohe Gewinne erziele. Dieser Eindruck und die Ansicht, daß es Aufgabe der Besteuerung sei, solche Gewinne mindestens zum sehr großen Teile „wegzusteuern“, hat dann immer weitere Kreise gezogen. Die Finanzverwaltung mußte gegenüber dem Rufe nach der „Kriegsgewinnsteuer“ eine gewisse Zurückhaltung beobachten. Denn die Aussicht, das Verdiente zu einem noch nicht zu übersehenden großen Teile wieder einzubüßen, konnte und kann leicht die Neigung zu Kriegslieferungen und insbesondere zu kost- spieligen Einrichtungen industrieller Anlagen zur Herstellung von Kriegs- bedarf wie unter Umständen auch diejenige zur Steigerung der land- wirtschaftlichen Produktion beeinträchtigen. In der öffentlichen Meinung, soweit auf diese unter der Herrschaft der Zensur geschlossen werden kann, hat aber der Gedanke der Kriegsgewinnsteuer nachgerade eine Volkstümlichkeit in breiten und politisch, wirtschaftlich und sozial ganz verschiedenartigen Schichten erlangt, wie kaum je eine Steuer. Bei denen, die von ihnen nicht getroffen werden, populäre Steuern sind freilich nicht immer die besten und gerechtesten. Das schlagendste

Nationalökonomische Gesetzgebung. 87

Beispiel dafür ist aus jüngster Zeit die Reichszuwachssteuer nach dem Gesetze vom 14. Februar 1911: unter dem Eindruck einer von den Wahrnehmungen auf dem städtischen Grundstücksmarkt beherrschten vermeintlichen „Popularität“ der Steuer haben Reichsleitung und Reichs- tagsmehrheit alle meine und anderer Sachverständigen Warnungen in den Wind geschlagen, obwohl schon während der Beratungen ihnen vor ihrem eigenen Werke mehr und mehr bange zu werden schien. Der Erfolg ist bekannt! Heut gibt es wohl wenige unbefangene Sach- verständige, die uns nicht recht geben und es nicht bedauern, daß man nicht auf uns gehört hat.

Ebenso eigenartig wie der Anstoß zur Kriegsgewinnsteuer ist ihre Vorbereitung. Es ist, soviel mir gegenwärtig ist, ohne Vorgang, daß man, ehe man noch weiß, ob, wann und wie eine Steuer künftig ver- abschiedet werden wird, einen Teil derjenigen, von denen man annimmt, dab sie später unter die wahrscheinlich kommende, in ihrer schließlichen Gestaltung noch ganz ungewisse Steuer fallen werden, durch ein Gesetz zwingt, bereits einen unter Umständen sehr bedeutenden Teil ihres Ein- kommens für die Entrichtung der künftigen Steuer zurückzulegen. Das aber ist Zweck und Inhalt des Reichsgesetzes vom 24. Dezember 1915 über „vorbereitende Maßnahmen zur Besteuerung der Kriegsgewinne“. Daneben mag es wenigstens war dies mein erster Gedanke, als ich nach Einbringung dieses Gesetzentwurfs von dem Kommen der inzwischen verabschiedeten neuen Kreditvorlage hörte den unausgesprochenen Zweck verfolgen, neue Kapitalreserven sicherzustellen, auf deren Anlage in Kriegsanleihe zu rechnen ist. In Friedenszeiten hätte man wohl den Gedanken, ehe noch das Steuergesetz selbst verabschiedet, ja auch nur vorgelegt ist, die möglicherweise das Steuerobjekt bildenden Werte der freien Verfügung ihrer Eigentümer zu entziehen, als eine Ungeheuerlichkeit zurückgewiesen. Der Krieg mit seinen Beschlagnahmen und Enteignungen, seinen Höchstpreisfest- setzungen und Verbrauchsbeschränkungen, der Ueberfülle von Ver- boten aller Art, der Auslegung der Begriffe „wirtschaftlicher“ Maß- nahmen im Sinne des Reichsgesetzes vom 4. August 1914 und „Inter- esse der öffentlichen Sicherheit“ im $ 9b des Belagerungszustands- gesetzes sowie der Diktatur des Bundesrats hat uns andere, wenn auch nicht erfreulichere Begriffe von dem Werte gesetzlicher Schranken der Staatsgewalt und von demjenigen verfassungsmäßiger Grundrechte, wie der durch den Belagerungszustand nicht suspendierten Verfassungsartikel über die Unverletzlichkeit des Eigentums, beigebracht. Immerhin han- delt es sich da um Maßnahmen, die im großen und ganzen mögen auch manche von ihnen überflüssig oder im einzelnen unzweckmäßig angelegt sein so sehr und so offenbar unabweislich sind, um das Durchhalten im Kriege zu ermöglichen, daß dieser Notlage gegenüber alle Rücksichten und Bedenken schweigen müssen, wenn sich die Maß- nahme nur als zweckdienlich und leidlich gerecht im Sinne gleich- mäßiger Behandlung aller von ihr Betroffenen erweist. Bei dem Vor- bereitungsgesetz für die Kriegsgewinnsteuer liegt die Sache immerhin wesentlich anders.

88 Nationalökonomische Gesetzgebung.

Mag die Kriegsgewinnsteuer an sich auch noch so gerecht sein ob sie es in der künftigen Gestalt sein wird, wissen wir noch nicht und mag es noch so sehr ein Gebot der Gerechtigkeit sein, dann niemandem das Durchschlüpfen zu ermöglichen, so handelt es sich doch um solche Lebensinteressen des Reiches wie bei der Sicherstellung des Heeresbedarfs und der Volksernährung dabei nicht. Andererseits hat man viel zu viel und viel zu früh von der Kriegsgewinnsteuer ge- sprochen und von vornherein für sie enorme Steuersätze genannt, so daß allerdings die Gefahr vorlag, daß die von ihr Bedrohten schon jetzt nach Mitteln und. Wegen suchen würden, um ihr künftig ganz oder teilweise zu entgehen. Bei der augenblicklichen, fast bis zur Unmöglich- keit gehenden Erschwerung der Auswanderung von Kapital oder In- dustrien ist jene Gefahr bei den natürlichen Personen immerhin nicht so groß, daß es nicht möglich erschiene, noch in dem künftigen Steuer- gesetze gegen Umgehungen Vorkehrungen mit hinreichender Rückwirkung in die nächste Vergangenheit zu treffen. Jedenfalls würde es gerade in der jetzigen Zeit mehr wirtschaftlichen Schaden als fiskalischen Nutzen stiften, wollte man auch die natürlichen Personen in der Ver- fügung über ihr Einkommen und Vermögen bloß um der Sicherung des Aufkommens einer künftigen, in ihrer Gestalt und Höhe noch gar nicht feststehenden Steuer willen beschränken. Bei den Erwerbsgesell- schaften liegen die Dinge insofern anders, als nach dem Wesen der Gesellschaften ihre Gewinne nach den nötigen Abschreibungen in erster Linie zur Verteilung an die Gesellschafter bestimmt sind. Wenn dies auch mit den während des Krieges gegen die Friedensjahre er- zielten Mehrgewinnen geschieht, so ist das also durchaus nichts, was an sich nach Steuerumgehung schmeckt. Hat aber die Verteilung einmal stattgefunden, dann würde es in vielen Fällen für das Reich unmöglich sein, eine Steuer, die einen sehr erheblichen Bruchteil des ausgeschütteten Gewinnes und oft des ganzen Stammkapitals ausmacht, von der Gesellschaft einzuziehen. In anderen Fällen würde es zwar nicht unmöglich sein, aber die Wirtschaftsführung der Gesellschaft viel mehr stören, als wenn man sie von vornherein an der Ausschüttung hindert und zur Reservestellung zwingt. Es ist daher zu billigen, wenn das Sperrgesetz denn als solches charakterisiert es sich sich auf die Erwerbsgesellschaften mit juristischer Persönlichkeit beschränkt.

Erst recht gutzuheißen ist es, wenn der Gesetzgeber hiermit seinen Willen bekundet, die an die Besitz- (Vermögenszuwachs-)Steuer anzu- lehnende Kriegsgewinnsteuer im Gegensatz zu jener auch auf nicht- physische Personen zu erstrecken. Schon die Beschränkung der Besitz- steuer auf natürliche Personen war, wie ich im Bd. 47, III. Folge, S. 596 dieser Jahrbücher ausgeführt habe, ein ebensolcher Fehler, wie die der preußischen Ergänzungssteuer neben einer Einkommensteuer- pflicht juristischer Personen. Die Herauslassung der Erwerbsgesellschaft aus einer auf Erfassung der Kriegsgewinne abgestellten Steuer wäre schlechthin unverständlich gewesen und könnte mich als Reichstags- abgeordneten ohne weiteres zur Ablehnung des ganzes Gesetzes be- stimmen.

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Die Sperre für jene Gesellschaften besteht ($ 1) in der Verpflichtung, die Hälfte des in jedem „Kriegsgeschäftsjahr“ erzielten „Mehrgewinnes“ in eine zu bildende, der freien Verfügung der Gesellschaft entzogene, getrennt von dem sonstigen Vermögen zu verwaltende und in deutschen Reichs- oder Staatsanleihen anzulegende Sonderrücklage einzu- stellen. Der Begriff des „Kriegsgeschäftsjahres“ wird im $ 2, der des „Geschäftsgewinnes“ im $ 3 bestimmt. Wenn dort von vornherein die „Kriegsgeschäftsjahre“ auf drei beschränkt werden, ohne daß man weiß, ob bis zu ihrem Ablauf der Krieg beendet, und umgekehrt, ob er etwa schon längere Zeit vorher beendet sein wird, so findet dies seine Rechtfertigung in der Anknüpfung an die Besitz- steuer, die ja den innerhalb dreier Jahre entstandenen Vermögens- zuwachs erfaßt.

Vom Standpunkt einer Erfassung der Kriegsgewinne wird es natürlich zu Ungleichmäßigkeiten führen, daß maßgebend die Geschäfts- fahre der Gesellschaften sind. Denn ein Geschäftsjahr, das z. B. vom 1. September 1913 bis 31. August 1914 läuft, also einen Kriegsmonat umfaßt, gilt ebenso als Kriegsgeschäftsjahr wie ein am 1. August 1914 be- gonnenes, also voll in die Kriegszeit fallendes. Aber ein Absehen von den individuellen Geschäftsjahren wäre nicht nur wegen der Anknüpfung an den Bilanzgewinn, sondern auch wegen der ganzen Natur der Er- werbsgesellschaften untunlich.

Selbstredend kann andererseits nicht schlechthin der sich aus der Bilanz ergebende Gewinn maßgebend sein, sondern muß Vorkehrung gegen eine willkürliche Herabdrückung durch stille Reserven getroffen werden. Freilich liegt hierin wie bei der Ermittelung des Einkommens oder Ertrags aus Handel und Gewerbe für andere direkte Steuern so auch bei dem Sperrgesetze die Hauptschwierigkeit. Die Vereinigung der steuerlichen Gesichtspunkte mit denen einer vorsichtigen kauf- männischen Gebarung bei den- Bilanzen und die steuerliche Beurteilung der in letzteren vorgenommenen Abschreibungen ist wohl das schwierigste Problem der Einkommensteuergesetze. Wie groß die Schwierigkeiten sind, beweisen die umfangreichen Erläuterungen zu den $$ 13 und 15 des preußischen Einkommensteuergesetzes in meiner Neubearbeitung des großen Fuistingschen Kommentars. Bestehen doch selbst über die Grundfragen des Begriffs des „Bilanzwertes“, des Kreises der ab- schreibungsfähigen Werte und der berücksichtigungsfähigen Wert- minderungen grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. An der Hand des Sperrgesetzes können sie zu recht unerwünschtem Ausdruck kommen, wenn es sich um die Anwendung der Strafbestimmungen seines $ 9 handelt. Denn die Voraussetzungen dieses Paragraphen können schon vor Einführung der Steuer selbst gegeben sein, und es kann da- her dahin kommen, daß ein Vorstandsmitglied wegen Gefährdung der Kriegsgewinnsteuer bestraft wird, weil er bei der Bilanzaufstellung und der darauf fußenden Bemessung der Sonderrücklage nach Grund- sätzen verfahren ist, die dann später bei der wirklichen Veran- lagung die Steuerbehörde bzw. der Verwaltungsrichter als durchaus richtig und zulässig anerkennt. Die Straftaten des $ 9 stellen sich